„Ich habe eine Dyskalkulie und Sorge, dass mein Kind auch eine Rechenschwäche entwickeln könnte. Wiebke, hast du Tipps, wie ich da vorbeugen kann?“
Diese Frage hat mich erreicht. Da ich mich im Bereich der Dyskalkulie nicht gut auskenne, habe ich eine Expertin gefragt: Birgit Schmidtgrabmer. Sie ist Psychologin und führt in ihrer Praxis in Wien die psychologische Diagnostik zu den Schwerpunkten Dyskalkulie, Legasthenie, Autismus, ADHS und Hochbegabung durch.
Außerdem betreut Birgit viele Kinder im Dyskalkulie- und Legasthenietraining und berät Eltern in der Elterngruppe Mathe-mutig.
Inhalt des Artikels
Birgit, was ist Dyskalkulie und woran erkenne ich, ob mein Kind betroffen sein könnte?
Menschen mit Dyskalkulie haben Schwierigkeiten mit der Verarbeitung von Zahlen und Mengen. Sie brauchen viel mehr Wiederholungen und oft auch Erklärungen, um Rechenwege zu verstehen und dann auch umsetzen zu können.
Merkmale einer Dyskalkulie können sein:
- wenig Verständnis für Zahlen und Mengen (Was ist viel oder wenig?)
- viele Rechenfehler, Probleme beim Kopfrechnen
- Schwierigkeiten beim Zehnerübergang
- Ergebnisse raten, weil das Verständnis fehlt
- lange mit den Fingern rechnen (zählendes Rechnen)
- Zahlen vertauschen, verdrehen oder falsch abschreiben
- langsames Rechentempo
- Schwierigkeiten damit, Uhrzeiten zu verstehen und eine analoge Uhr mit Zeigern zu lesen (kann auch für Erwachsene eine große Herausforderung darstellen)
- Umgang mit Geld: Wie viel Wechselgeld bekomme ich zurück?
Dyskalkulie ist recht individuell ausgeprägt, das heißt, dass nicht jedes Kind alle Merkmale aufweisen muss. Wenn einige davon gegeben sind, sollte eine psychologische Diagnostik gemacht werden.
Wenn Kinder wissen, dass sie Dyskalkulie haben, können sie damit meist recht gut umgehen, denn dann wissen sie, was los ist. Kinder, die keine Diagnose bekommen, zweifeln oft stark an sich selbst und denken irgendwann, dass sie dumm seien. Das ist aber nicht der Fall. Dem kann mit einer Testung, Diagnose und einem Dyskalkulietraining gegengesteuert werden.

Gibt es schon im Kindergartenalter Anzeichen, dass sich eine Dyskalkulie entwickeln könnte?
Auch im Kindergartenalter zeigen sich manchmal schon erste Anzeichen. Wichtig ist aber, dass man in diesem Alter noch keine Diagnose stellen kann. Das ist erst ab Ende der 2. Klasse möglich, denn dann haben die Kinder die Grundlagen gelernt und man kann überprüfen, ob das Kind diese verstanden hat und anwenden kann.
Im Kindergarten fällt es Kindern mit Dyskalkulie oft schwer, das Zählen zu lernen. Sie verzählen sich oft, vergessen einzelne Zahlen dazwischen oder schaffen es nicht, Dinge abzuzählen, das bedeutet, dass sie zum Beispiel einen Gegenstand mehrmals zählen oder dazwischen einige auslassen. Sie schaffen es also noch nicht, Gegenstände richtig abzuzählen. Im letzten Kindergartenjahr sollten Kinder das beherrschen.
Ebenfalls sollten sie die Würfelbilder auf einen Blick erkennen. Kinder, denen die Zahlenverarbeitung schwerfällt, können meist nur 1-3 Punkte erkennen, 4-6 Punkte müssen sie immer wieder nachzählen. Ein Hinweis könnte auch sein, dass ein Kind während eines Spiels alle Würfelbilder auf einen Blick erkennen kann, weil es sich diese im Laufe des Spiels gemerkt hat, aber am nächsten Tag muss es wieder nachzählen. Es dauert sehr lange, bis Rechenprozesse gespeichert und automatisiert werden.

Kinder im Einschulungsalter sollten Mengen auf Würfeln auf einen Blick erfassen können.
Wenn ein Kind schon früh erkennt, dass ihm alles mit Zahlen schwerfällt, dann kann es auch passieren, dass es schon vor Schulbeginn versucht, alles mit Zahlen zu vermeiden. Das Kind möchte nicht zählen, keine Spiele mit Zahlen spielen und auch sonst so wenig wie möglich mit Zahlen zu tun haben. Das ist ein Alarmsignal, auf das Eltern unbedingt achten und gegebenenfalls darauf regieren sollten, indem sie schon früh ein Dyskalkulietraining für ihr Kind suchen. Auch schon vor Schulbeginn kann da einiges gemacht und geübt werden.
Förderung schadet nicht, auch wenn sich später herausstellen sollte, dass es doch keine Dyskalkulie ist.
Um zu überprüfen, ob das Kind schon ein Verständnis für mehr und weniger hat, können Alltagssituationen genutzt werden. Man kann dem Kind zwei Teller mit unterschiedlich vielen Keksen hinstellen und es fragen, auf welchem mehr sind. Auch Autos, Stifte, Kinder am Spielplatz, Fahrräder, … können nach mehr und weniger beurteilt werden. Das kann man zuhause oder unterwegs immer wieder einbauen.
Kann einer Dyskalkulie vorgebeugt werden?
Dyskalkulie ist eine andere Art der Verarbeitung von Zahlen und Mengen im Gehirn. Das ist von Geburt an so, einer Dyskalkulie kann man also nicht direkt vorbeugen.
Man kann das Kind aber von Anfang an unterstützen und fördern und so schon ein Grundgerüst entwickeln, auf dem das Kind dann in der Schule weiter aufbauen kann. Die Dyskalkulie kann nicht verhindert werden, wenn sie schon besteht, aber wenn ein Kind von Anfang an Förderung erhält, kann man viel abfedern.
Wenn Eltern selbst Dyskalkulie haben oder sich schon immer beim Rechnen schwer getan haben, könnte es sein, dass sie die Probleme in Mathematik an ihr Kind vererbt haben, denn Dyskalkulie ist teilweise vererbbar. Dann sollten Eltern besonders genau hinschauen und das Kind fördern, sobald ihnen Schwierigkeiten auffallen.
Unabhängig davon, sollte man schon im Kindergarten viel mit dem Kind zählen, mehr und weniger erarbeiten, Spiele mit Würfeln spielen, Figuren zeichnen und benennen. Im Alltag kann man z. B. Figurendetektiv*in spielen und alle Kreise, Vierecke oder Dreiecke in der Umgebung suchen. So lernt das Kind die Figuren automatisch und spielerisch.

Was können Eltern tun, wenn sie den Verdacht haben, dass ihr Kind eine Dyskalkulie hat?
Beim Verdacht auf Dyskalkulie sollten Eltern eine Dyskalkulie-Testung mit ihrem Kind machen. Dann wissen alle, was los ist und das Kind kann die richtige Förderung erhalten. Eine Testung ist erst ab Ende der 2. Klasse sinnvoll.
Eine Dyskalkulie-Testung beinhaltet
- eine genaue Anamnese mit den Eltern, in der die Entwicklung des Kindes abgefragt wird,
- eine Testung mit dem Kind (standardisierter Rechentest und Intelligenztest)
- und ein Rückmeldegespräch, bei dem alle Ergebnisse genau erklärt werden.
Wenn eine Dyskalkulie festgestellt wird, sollte das Kind so bald wie möglich ein Dyskalkulietraining beginnen, in dem die Grundlagen noch einmal wiederholt und erarbeitet werden und das Kind die Möglichkeit bekommt, Fragen zu stellen und die Rechenwege zu automatisieren.
Falls ein Kind schon im Kindergartenalter oder in der 1. Klasse große Schwierigkeiten mit Zahlen und dem Rechnen hat, kann auch schon in diesem Alter ein Dyskalkulietraining begonnen werden. Das Dyskalkulietraining ist meist sehr spielerisch aufgebaut, sodass es auch für jüngere Kinder gut geeignet ist.
Eltern sollten auch ein Gespräch mit der Lehrkraft suchen, um herauszufinden, ob die Schwierigkeiten in der Schule auch schon aufgefallen sind. Wenn die Lehrkraft aber zum Abwarten rät, ist mein Tipp, das Kind trotzdem lieber früher testen zu lassen, damit man weiß, wie man dem Kind optimal helfen kann. Eine frühe Testung (ca. 3. Klasse) hilft meist mehr als das jahrelange Abwarten. Kinder, die keine Förderung erhalten, fallen in Mathematik immer weiter zurück und es wird immer schwieriger Lücken im Stoff wieder aufzuholen.
Weitere Infos dazu gibt es von Birgit im „Mini-Guide Dyskalkulie und Rechenschwäche“ und in der „Elterngruppe Mathe-mutig“. In dieser Gruppe können sich Eltern austauschen, Fragen stellen und bekommen Infos, Spiele und Übungen für zuhause.
Hast du Tipps, wie Eltern ihr Kind gut auf den Matheunterricht in der Schule vorbereiten können, damit es leicht ins Rechnen starten kann?
Um ein Kind gut auf die Schule und den Mathematikunterricht vorzubereiten, kann man ganz viel zählen und spielen. Im Alltag gibt es viele Gelegenheiten, das Zählen zu üben. Wie viele Stufe sind es? Wie viele Schritte brauchst du vom Bett zur Tür? Wie viele Kinder sitzen auf der Schaukel? Wie viele Stifte hast du? Wie viele Kekse liegen am Teller? In fast jeder Situation gibt es etwas, das man zählen kann.
Es ist wichtig, dass das Kind möglichst schon vor Schulbeginn sicher bis 10 zählen kann und die einzelnen Gegenstände einer Zahl zuordnen kann. Man sollte darauf achten, dass das Kind jedes Ding ein Mal zählt und nichts überspringt.
Das sollte ein Kind vor Schulbeginn trainieren:
- Formen im Raum finden (Dreiecke, Vierecke, Kreise)
- Reihen fortsetzen (Kreis – Viereck – Kreis – …)
- Material nach einem bestimmten Muster auflegen und ein Muster nachbauen
- konkrete Mengen nennen: „Gib mir bitte drei Autos.”
- beim Kochen und Backen helfen (abwiegen, zählen, messen).

Hier kommt noch zwei Spieletipps:
Popcorn-Spiel: Es werden Zahlen (wenn das Kind das schon kann) auf kleine weiße Zettel geschrieben oder Mengen aufgezeichnet (z. B. 3 Punkte, 5 Autos, 2 Teddybären, 8 Häuser, 10 Fische, …). Die Zettel werden zerknüllt, sodass sie aussehen wie Popcorn. Das Kind zieht ein Popcorn und liest die Zahl oder zählt die Gegenstände. Das macht den Kindern Spaß, denn es ist einmal etwas Anderes. Wenn es im Anschluss an das Spiel noch echtes Popcorn zu essen gibt, kann die Motivation weiter gesteigert werden.
Zahlen verstecken: Zahlen oder aufgezeichnete Gegenstände werden auf kleinen Zetteln notiert. Die Zettelchen werden im Zimmer versteckt. Das Kind sucht einen Zettel und sagt oder schreibt das Ergebnis auf. Das Suchen macht Spaß und hat nicht den Charakter von „ich muss jetzt lernen“. Man kann auch die Rollen tauschen: Das Kind versteckt die Zettelchen und die erwachsene Person sucht und zählt. Wenn das Kind älter ist, kann man auch Rechnungen auf diese Art spielerisch und lustig üben.
Liebe Birgit, vielen Dank für das spannende Interview und deine vielen Informationen und Tipps zur Dyskalkulie!

Birgit Schmidtgrabmer ist Klinische- und Gesundheitspsychologin, Dyskalkulie- und Legasthenietrainerin und Autorin. Sie arbeitet arbeitet mit Kindern ab 4 Jahren, Jugendlichen und Erwachsenen und macht psychologische Diagnostik zu den Schwerpunkten Dyskalkulie, Legasthenie, Autismus, ADHS und Hochbegabung in Wien.
Vor kurzem ist ihr erstes Buch „Zahlenchaos im Kopf – wenn Rechnen zur Herausforderung wird“ erschienen.
Hallo, hier schreibt Wiebke!
Ich bin Logopädin, Autorin und Mutter von drei Kindern. Hier findest du Infos zur Sprachentwicklung und Tipps, wie du dein Kind beim Sprechenlernen kompetent und spielerisch begleiten kannst.
Viel Spaß beim Lesen! 🤩