Mein emotionalster Moment als Logopädin

Mein emotionalster Moment als Logopädin

Die Arbeit als Logopädin ist emotional. Denn zu mir kommen Menschen, die Sorgen und Ängste haben:

  • Angst, nie wieder Essen schlucken zu können.
  • Angst, dass das dreijährige Kind nie sprechen lernen wird.
  • Angst, nach dem Schlaganfall die Sprache für immer verloren zu haben.
  • Angst vor dem nächsten Auftritt, weil die Stimme immer noch heiser ist.
  • Angst, dass das Kind wegen seines Stotterns gemobbt wird.

 Nicht immer kann ich helfen. Manche Therapieziele bleiben unerreichbar. Das zu akzeptieren fällt meinen Patient:innen schwer. Und mir auch.

Genauso gibt es auch Momente, die mich glücklich machen: Lachen über eine humorvolle Situation, Wärme, weil ich einen tiefen Verbindungsmoment fühle, gemeinsame Freude über Erfolgsschritte in der Therapie. In diesen Momenten spüre ich, wie gerne ich Logopädin bin.

Eine Frage, die mich zum Nachdenken bringt

Julia Georgi, Psychologin und Hypnosetherapeutin, fragt in ihrer Blogparade: „Was war dein emotionalster Moment als Coach oder Therapeut?“ Mit dieser Frage bringt sie mich zum Nachdenken. Mein emotionalster Moment? Mir fällt eine emotionale Situation als Berufsanfängerin ein: Ein kleiner Moment, ein kurzer Anruf, von außen betrachtet nicht weltbewegend, der mir aber bis heute wichtig und im Gedächtnis geblieben ist. Für diesen Moment geht die Reise zurück ins Jahr 2005:

Ein Start mit Selbstzweifeln

Mit 26 Jahren hatte ich mein Studium der Logopädie mit dem Bachelor beendet und war hoch motiviert in einer logopädischen Praxis in Göttingen als Angestellte gestartet. Meine Kolleginnen und meine Chefin machten mir den Anfang leicht: Ich bekam Supervision und konnte in Teamsitzungen meine ganzen Fragen loswerden. Auch während des Studiums hatte ich im praktischen Unterricht und während vieler Praktika schon erste Erfahrungen sammeln können.

Aber jetzt, als frischgebackene Logopädin, bekam ich echte Selbstzweifel: Bin ich überhaupt eine gute Logopädin? Kann ich das, was ich bisher nur theoretisch gelernt oder unter Anleitung geübt habe, auch „im echten Leben“ anwenden? Kann ich wirklich helfen?

Eine meiner ersten jungen Patientinnen war ein vierjähriges Mädchen, ich nenne sie hier Fiona. Fiona kam wegen einer Phonologischen Störung zu mir: Sie ersetzte alle Frikative (Fließlaute wie f, w oder sch) durch Plosive (Knalllaute wie p, t oder k). Das hörte sich dann so an:

„It heite Piona und gehe in den Kindergarten. Ganz opt pertehen mit die Menten nit. Dann berde it bütend!“ Kannst du verstehen, was Fiona hier sagt? „Ich heiße Fiona und gehe in den Kindergarten. Ganz oft verstehen mich die Menschen nicht. Dann werde ich wütend!“

Fionas größter Kummer: Wenn sie gefragt wurde, wie sie heißt oder wie alt sie ist, dann wurde ihre Antwort nicht verstanden. Ihr wichtigstes Ziel bei mir: Sie wollte unbedingt lernen, ihren Namen und die Zahl „vier“ richtig zu sprechen.

Und genau dieses Ziel verfolgten wir. Im ersten Schritt lernte Fiona, die Laute, die sie ersetzt, über das Hören zu unterscheiden. Das klappte gut und wir arbeiteten motiviert weiter. Aber in der zweiten Therapiephase ging es nicht so erfolgreich weiter. Fiona sollte üben, die Fließlaute einzeln, in Silben und schließlich in Wörtern zu sprechen. Sie war mit viel Ehrgeiz dabei, aber es fiel ihr sehr schwer. Ich hoffte so sehr für sie, dass bald ein Durchbruch käme und dass das Therapiekonzept, mit dem ich arbeitete (die Psycholinguistisch orientierte Phonologietherapie von Annette Fox-Boyer) auch bei ihr erfolgreich sein würde.

Ein kurzer Anruf

Eines Abends kurz vor Feierabend klingelte das Praxistelefon. Fionas Mutter rief an und erzählte mir: „Sie glauben nicht, was heute passiert ist! Eine Frau im Supermarkt hat Fiona gefragt, wie alt sie ist. Und Fiona hat „Vier!“ gesagt! Mit fffff! Fiona freut sich so und ich soll sie unbedingt anrufen!“

Was für ein Anruf! Nicht nur beim Auflegen, auch auf dem Weg zur Bushaltestelle kam ich aus dem Strahlen gar nicht mehr heraus. Ich freute mich so sehr für dieses vierjährige Mädchen! Vermutlich ahnte Fionas Mutter gar nicht, wie viel mir ihr Anruf bedeutete. 

Neben der Mitfreude über Floras Freude entdeckte ich noch weitere Gefühle in mir – Stolz über Fionas Kampfgeist, Erleichterung, dass die Therapie wirkt und ein Gefühl von Gewissheit: Deshalb bin ich Logopädin geworden! Um Menschen wie Fiona so unterstützen zu können, dass sie kommunizieren können. Dass sie das ausdrücken können, was sie wollen.

Der Anruf von Fionas Mutter zählt von außen betrachtet nicht zu den „großen“ emotionalen Momenten. Aber in mir hat er viel bewegt. Die Momente, in denen ich meine Patient:innen für ihren Durchhaltewillen und ihre Motivation bewundere und stolz auf sie bin – ich glaube, das sind die emotionalen Momente, die ich am meisten in meinem Beruf liebe. 

2 Kommentare zu „Mein emotionalster Moment als Logopädin“

    1. Hallo Susanne, stimmt. Von außen betrachtet sieht es nach nicht so viel aus, aber für das Mädchen war es so ein riesiges Erfolgserlebnis! Vielen Dank für deinen Kommentar!
      Liebe Grüße, Wiebke

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Wiebke Schomaker Logopädin

Hallo, hier schreibt Wiebke!

Ich bin Logopädin, Autorin dieses Blogs und Mutter von drei Kindern. Hier findest du Infos zur Sprachentwicklung und Tipps, wie du dein Kind beim Sprechenlernen kompetent und spielerisch begleiten kannst.

Viel Spaß beim Lesen! 🤩

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