Wie entwickelt sich die Sprache bei Kindern im Autismus-Spektrum? Hat die besondere Wahrnehmung von autistischen Menschen Einfluss auf die Art der Sprachentwicklung? Und wenn ja: Wie können Kinder mit Autismus in ihrem Spracherwerb gezielt unterstützt werden?
In meinem Logopädie-Studium wurden diese Fragen nur am Rande behandelt. Deshalb habe ich mich besonders gefreut, als ich Anfang des Jahres die Sprachtherapeutin Lisa Klaar kennengelernt habe, denn Lisa hat sich auf die Sprachentwicklung bei Autismus und Neurodivergenz spezialisiert.
Zum Glück hat sich Lisa zu einem Interview bereit erklärt, so dass ich ihr all meine Fragen zu diesem hochspannenden Thema stellen konnte.
Inhalt des Artikels
Hallo Lisa! Wer bist du und was machst du beruflich?
Hi Wiebke. Ich freue mich, dass wir dieses Interview gemeinsam machen!
Mein Name ist Lisa Klaar, ich bin 33 Jahre alt und akademische Sprachtherapeutin. Nach meinem Master in Klinischer Linguistik habe ich mit zwei Elternzeitunterbrechungen konstant in logopädischen Praxen gearbeitet. Auch jetzt bildet die Praxisarbeit noch den Hauptteil meines Berufslebens.
Seit Anfang 2023 gehe ich mit meinem Herzensthema nun in die Öffentlichkeit und habe mich damit nebenbei selbstständig gemacht. Das bedeutet, dass ich nicht nur auf Instagram als @lk.lingua Informationen zur Sprachentwicklung im Autismus-Spektrum poste, sondern auch Fortbildungen für Fachpersonen und Kurse sowie Beratungen für Eltern anbiete.
Wie bist du dazu gekommen, dich auf die Sprachtherapie bei Autismus und Neurodivergenz zu spezialisieren?
Im Rahmen meiner Praxistätigkeit begleite ich mittlerweile viele Kinder im Autismus-Spektrum (die Praxis, in der ich tätig bin, versorgt eine große Kinderheilstätte sprachtherapeutisch).
Ich bin Fan evidenzbasierter Ansätze und gern auf dem neuesten wissenschaftlichen Stand. Dazu gehört für mich auch der Blick über Deutschlands Tellerrand hinaus auf internationale Ansätze.
Ich recherchierte gezielt nach Echolalien* in der Sprache von Kindern im Autismus-Spektrum. Dieses sprachliche Phänomen begegnet mir nämlich überaus häufig und ich wollte nicht hinnehmen, dass Echolalien „wenig Bedeutung“ oder selten kommunikative Funktionen haben sollten.
*Echolalien sind Wiederholungen von Äußerungen anderer, wie ein „Echo“
Über die Website der ASHA (American Speech-Language-Hearing Association) stieß ich auf Literatur und Informationen zu „gestalt language“, welche genau das waren, was ich suchte. Ab da stand mein Vorhaben fest. Ich absolvierte einen ziemlich teuren, aber sehr guten Kurs von Alexandria Zachos & Marge Blanc, verschlang sämtliche Literatur zu dem Thema. Es gibt verhältnismäßig wenig! Ich adaptierte den Ansatz „Natural Language Acquisition“ für meine Arbeit und die deutsche Sprache und legte los.
Das hat einfach ALLES verändert!
Was ist gestaltbasierte Sprachentwicklung?
Der Gestaltbasierte Sprachentwicklungsstil beschreibt den Spracherwerb von Kindern im Autismus-Spektrum. Er ist also eine andere Art Sprache zu entwickeln als die analytische und damit bekannte Sprachentwicklung neurotypischer Kinder.
Aber auch bei autistischen Kindern lassen sich im Spracherwerb chronologische Abfolgen und Regelmäßigkeiten beobachten, die aus einer anderen Wahrnehmung und Verarbeitung von Sprache resultieren.
Interessanterweise nutzen US-Amerikanische Wissenschaftler*innen in dem Bereich den deutschen Begriff „Gestalt“ für die Beschreibung verzögerter Echolalien (Wiederholung eines Inputs, z.B. ein Satz aus einer Kinderserie, der zu einem späteren Zeitpunkt, teilweise immer wieder, geäußert wird).
Diese verzögerten Echolalien sind feststehende sprachliche Ausdrücke, die für die Kinder Emotionen, Erinnerungen und Bedeutung tragen, die eng mit denen der ersten Wahrnehmung des Ausdrucks verknüpft sind. Im Gestaltbasierten Sprachentwicklungsstil durchläuft das Kind 6 Sprachentwicklungsphasen von „Gestalten“ zu selbstgenerierter Sprache.
Mina (5 Jahre alt) – ein anonymisiertes Beispiel für eine „Gestalt“:
Mina ist Autistin. Wenn Mina sich freut, sagt sie „Auf die Plätze, fertig, looos!“. Die Freude sieht ihr die Erzieherin nicht unbedingt an, aber ihr fällt auf, dass Mina diesen Satz immer wieder wiederholt. Und das, obwohl es kein einziges Mal um ein Wettrennen oder ihr bekannte Kontexte zu diesem Satz geht. Mina sagt diese 5 Wörter täglich, wenn sie sich in den Morgenkreis setzt und ihr Lieblingslied beginnt, zwischendurch und auch, wenn Mama sie nachmittags abholt.
Hintergrund: Minas Papa sagte den Satz als erster zu ihr, als er ihr oben auf der Rutsche das Zeichen gegeben hat, dass sie nun zusammen losrutschen.
Dieser Ausdruck bedeutet für Mina keine einzelnen Wörter – er bedeutet für Mina ein ganzheitliches: „Gleich kommt etwas, worauf ich mich freue und was mir Kribbeln im Bauch bereitet!“
„Auf die Plätze, fertig, looos!“ sind für Mina keine 5 Wörter. Es ist eine mit Gefühlen, Erinnerungen und Erfahrungen gefüllte „Gestalt“. Und diese nutzt sie: kommunikativ um ihre Gefühle nach außen zu tragen und um ihr sprachliches System zu entwickeln!
Die wichtigsten Unterschiede zwischen den Sprachentwicklungsstilen findest du in der Tabelle:
Übrigens habe ich aus der langen Bezeichnung „GEstaltbasierter SPrachENtwicklungsSTil“ den Titel meines GESPENST® -Ansatzes abgeleitet.
Lernen alle Kinder im Autismus-Spektrum das Sprechen gestaltbasiert? Und gibt es wiederum auch neurotypische Kinder, die nicht analytisch, sondern gestaltbasiert sprechen lernen?
Die Recherche nach einer Zahl führt schnell zu einer konkreten Prozentangabe. ABER diese stammt aus einer früheren Studie von Rydell & Prizant (1995), welche beobachten, dass 85% der autistischen Personen innerhalb ihrer Studie Echolalien zeigten. Diese Zahl ist mit Vorsicht zu genießen. So sehr ich die Forschungsarbeiten von Prizant schätze – diese Zahl beschreibt nicht direkt die Gestaltbasierte Sprachentwicklung, sondern lediglich eine Angabe über Häufigkeiten von Echolalien, welche für die erste Ebene der Gestaltbasierten Sprachentwicklung besonders kennzeichnend sind.
Um es kurz zu machen: Es gibt noch nicht genug Daten, aber der gestaltbasierte Sprachentwicklungsstil ist tatsächlich sehr, sehr häufig bei Kindern im Autismus-Spektrum zu beobachten. Auch einige Kinder mit Trisomie 21 sowie manche neurotypische Kinder (seltener) zeigen den gestaltbasierten Sprachentwicklungsstil. Mein Sohn (wahrscheinlich neurotypisch) verwendet auch mit fast 3 Jahren noch regelmäßig (verzögerte) Echolalien und zeigt Überschneidungen der Sprachentwicklungsstile. Das ist ebenso möglich.
Wie können Eltern herausfinden, welchen Sprachentwicklungsstil ihr Kind hat? Braucht es dazu eine logopädische Diagnostik?
Es braucht zunächst das Wissen über die Stile. Wenn Eltern ein Kind im Autismus-Spektrum haben, können sie eher davon ausgehen, dass es den Gestaltbasierten Stil nutzt. Den Stil erkennen Eltern/Fachpersonen am ehesten durch eine Spontansprachanalyse, bei welcher besondere Aspekte relevant sind. Das können Fachpersonen und Eltern, gern auch bei mir, erfragen und lernen.
WICHTIG: Eine logopädische Diagnostik ist nur dann angeraten, wenn der Verdacht auf Schwierigkeiten in der Sprachentwicklung des Kindes besteht. Ein Gestaltbasierter Sprachentwicklungsstil selbst IST KEINE Diagnose oder Symptom, das per se behandlungsbedürftig ist. Steckt das Kind jedoch auf einer Ebene fest ist eine gezielte Unterstützung seiner natürlichen Sprachentwicklung (seinem Stil entsprechend) wichtig.
Was können Eltern tun, um die Sprachentwicklung ihres Kindes mit Autismus/ASS zu unterstützen? Hast du 1-2 wichtige Tipps?
Das ist pauschal kaum zu beantworten. Ein paar allgemeingültige Tipps sind jedoch:
- Möglichst allen Äußerungen Aufmerksamkeit schenken (Nicken, Zustimmen, Wiederholen, Modellieren)
- Fragen vermeiden (Fragen sind komplexe Strukturen, die erst spät verstanden werden)
- Versuche herauszufinden, was die Äußerung /Echolalie/ Gestalt für das Kind bedeutet
Was denkst du, woran es liegt, dass die gestaltbasierte Sprachentwicklung und -therapie bei uns in Deutschland noch so unbekannt ist?
Wir müssen uns kurz bewusst machen, dass „Autismus“, so bekannt er uns heute ist, erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts „erkannt“ und „anerkannt“ wurde (Kanner, 1943). Es ist also ein Forschungsgebiet, dass offiziell noch gar nicht mal so alt ist. Umso erstaunlicher, dass bereits in den 70er Jahren schon die ersten Arbeiten zur Gestaltsprache publiziert wurden. Trotzdem schaffen es diese Informationen erst jetzt, großflächiger wahrgenommen zu werden.
Wieso? Das hat mehrere Gründe:
Relativ parallel entwickelt sich der viel beworbene und postulierte verhaltenstherapeutische Ansatz „angewandte Verhaltensanalyse (ABA)“. Dieser bekommt massig Aufmerksamkeit (und Geld) im Bereich der Autismus-Forschung. Andere Ansätze rücken schnell in den Hintergrund.
Ein weiterer wichtiger Punkt liegt sicher im Forschungsdesign: Die Untersuchung der Sprachentwicklung bei Autismus geschieht hauptsächlich mittels qualitativer Studien. Qualitative Studien bieten wissenschaftlich weniger anerkannte Evidenz als quantitative. Die Wissenschaft liebt Zahlen – Alles muss messbar sein, damit wir wissen, dass es wirklich „ein Ding“ ist (und das ist übrigens auch gut so!).
Qualitative Studien brauchen sehr viel Zeit und bieten durch Einzelfallbeschreibungen oder die Beschreibungen kleiner Gruppen zunächst wenig Evidenz. Außerdem werden sie finanziell viel weniger gefördert. Durch Technologisierung und soziale Medien kommt zu dieser relativ geringen Evidenzlage der 70er bis 90er langsam immer mehr externe Evidenz hinzu.
Dazu gehören z.B. Eltern, die die Sprachentwicklung ihrer autistischen Kinder beschreiben, Fachpersonen, die qualitative Langzeitstudien veröffentlichen und sich austauschen etc. Problematisch: Nicht gut messbar, nicht valide. Es brauchte also sehr, sehr viel Zeit für sehr, sehr viele Einzelfalluntersuchungen, Langzeitstudien und Berichte von Eltern etc. bis eine Basis an gesichertem Wissen da war.
Aktuell ploppen in allen möglichen Ländern Studien zu dem Thema auf und mein Herz freut sich sehr darüber! Bald kann ich hoffentlich auch zur Evidenzlage beitragen! Ich arbeite daran…
Wenn sich Eltern oder Therapeut*innen weiter über die gestaltbasierte Sprachentwicklung informieren wollen, wo finden sie Infos?
Im deutschsprachigen Raum aktuell vorwiegend bei mir. Ich biete Fortbildungen für Therapeut*innen, Elternkurse und Elternberatungen an. Schau dazu gern auf www.lk-lingua.de.
Schnelle Informationen erhältst du auf meinem Instagram-Account @lk.lingua
Für gute englischsprachige Informationen klicke dich z.B. durch folgende Instagram Accounts:
Vielen Dank für dieses spannende Interview, Lisa! Das Thema der gestaltbasierten Sprachentwicklung ist so wichtig – und ziemlich komplex. Ich habe sehr viel von dir gelernt und danke dir, dass du mit deiner aufklärenden Arbeit, deinem Herzensprojekt, vielen Eltern und ihren Kindern hilfst.
Lisa Klaar (33) ist
Akademische Sprachtherapeutin (M.A. Klinische Linguistik).
Sie wohnt im Münsterland und klärt auf ihrem Instagramaccount @lk.lingua über die Sprachentwicklung von Kindern im Autismus-Spektrum auf.
Auf Lisas Website www.lk-lingua.de findest du weitere Informationen und Fortbildungsmöglichkeiten.
Lesetipp:
Eine Übersicht zur analytischen Sprachentwicklung (vom einzelnen Wort zu ganzen Sätzen) findest du in meinem Artikel „Meilensteine der Sprachentwicklung“.
Hallo, hier schreibt Wiebke!
Ich bin Logopädin, Autorin dieses Blogs und Mutter von drei Kindern. Hier findest du Infos zur Sprachentwicklung und Tipps, wie du dein Kind beim Sprechenlernen kompetent und spielerisch begleiten kannst.
Viel Spaß beim Lesen! 🤩