„Ich will nicht mehr stottern!“ sagen viele Kinder mit Stottersymptomen, wenn ich sie frage, was sie sich am meisten wünschen. Ich kann sie so gut verstehen! Schließlich haben die meisten Kinder aufgrund ihres Stotterns schon Ausgrenzung, Mobbing und mitleidige Blicke erlebt. Viele schämen sich fürs Stottern und wünschen sich: „Das soll einfach weg sein!“
In diesem Artikel beschreibe ich, mit welchem Schlüsselsatz stotternde Kinder unterstützt werden können, eine selbstbewusste Haltung zum Stottern und einen entspannteren Umgang mit Stottersymptomen zu entwickeln. Ausgelöst wurde dieser Text durch eine Frage der Heilpädagogin Heike Brandl. Sie fragt in ihrer Blogparade: „Mit welchem Satz hast zu etwas bei einem Kind bewirkt?“
Inhalt des Artikels
Die Therapiemethode KIDS bei stotternden Kindern
Es gibt verschiedene Therapiekonzepte, um Kindern mit Stottersymptomen zu helfen. Die meisten Logopäd*innen im deutschsprachigen Raum nutzen die Therapiemethode KIDS. Sie wurde von Patricia Sandrieser und Peter Schneider für die direkte Therapie mit Kindern ab 2 Jahren (Mini-KIDS) und Schulkindern (KIDS) entwickelt. 2007 habe ich eine Weiterbildung bei diesen beiden großartigen Stottertherapeuten über „Stottern im Kindesalter“ gemacht und daraufhin meine Leidenschaft für die Stottertherapie mit Kindern entdeckt.
Im März 2022 wurde die Wirksamkeit der Stottertherapie KIDS übrigens durch eine vierjährige Studie ganz offiziell bestätigt.
KIDS steht für „Kinder Dürfen Stottern“. Das klingt erstmal paradox – eine Stottertherapie, die das Stottern „erlaubt“? Der Hintergrund für diesen Ansatz findet sich in Forschungsergebnissen zur Entwicklung des Stotterns:
Die meisten Kinder stottern das erste Mal zwischen 2 und 5 Jahren. Etwa 5% aller Kinder zeigen im Laufe ihrer Kindheit Stottersymptome. Wichtig ist, dieses echte Stottern von normalem unflüssigem Sprechen zu unterscheiden, denn alle Kinder (und Erwachsene) stocken und stolpern manchmal beim Sprechen, ohne dass dies Stottern ist. Wie du zwischen unflüssigem Sprechen und Stottern unterscheiden kannst, erfährst du im Artikel „Ist Stottern eine normale Phase bei Kindern?“
Bei 80% aller stotternden Kinder verschwindet das Stottern bis zur Pubertät vollständig wieder. Dieses Verschwinden nennt sich im Fachjargon „Remission“. Es wurde festgestellt, dass die Remission wahrscheinlicher wird, wenn Kinder entspannt und locker stottern.
Das Therapiekonzept KIDS setzt genau dort an: Damit Kinder entspannt stottern können, ist es wichtig, dass sie während des Stotterns möglichst nicht gegen die Blockierung ankämpfen. Stattdessen lernen sie eine Technik, um das Stottern weich und leicht werden zu lassen.
Gleichzeitig wird an einer selbstbewussten Haltung zum eigenen Stottern gearbeitet. Deshalb ist der Leitsatz der Therapie „Kinder dürfen stottern“ so zentral. Der Mittelpunkt der gesamten Therapie ist die Haltung: Es ist okay, dass du stotterst! Du darfst stottern!“ Für Kinder, die bisher immer gegen ihr Stottern angekämpft haben, ist diese Haltung neu. Oft können sie nicht sofort so einen entspannten Umgang mit Stottern übernehmen, vor allem, wenn das Stottern bisher eine Art Tabuthema in der Familie gewesen ist.
Wie sieht eine Stottertherapie bei Kindern aus?
Meistens starte ich die Therapie mit einem Beratungsgespräch der Eltern ohne das Kind, damit sie ihre Ängste und Sorgen offen mit mir besprechen können. In dieser ersten Stunde fließen oft Tränen, denn viele Eltern fühlen sich stark belastet durch das Stottern ihres Kindes und haben große Zukunftsängste.
Für viele Eltern ist es ein großer Schritt zu erkennen: Unser Kind darf stottern! Es darf stottern und kann trotzdem die Brötchen beim Bäcker bestellen, sich in der Schule beteiligen und einen Beruf lernen. Auch die vielen Beispiele von erfolgreichen Menschen wie Ed Sheeran, Joe Biden oder Bruce Willis, die stottern oder als Kinder gestottert haben, helfen vielen Eltern, ein anderes Bild vom Stottern zu bekommen.
Zum Welttag des Stotterns am 22. Oktober 2022 wurde diese selbstbewusste Haltung von der Bundesvereinigung Stottern & Selbsthilfe e.V. auf den Punkt gebracht:
„Unser Recht auf Stottern: […] In dieser Zeit der Vielfalt wird stotternden Menschen allzu oft die Gleichstellung verwehrt, sei es bei der Arbeit, in der Ausbildung oder bei der Nutzung alltäglicher Dienstleistungen. Vielmehr wird erwartet, dass wir uns bemühen, unser Stottern zu „überwinden“ und anders zu sprechen. Als Einzelne mögen wir uns das wünschen und es sogar versuchen. Aber als Gemeinschaft widersprechen wir der Vorstellung, dass wir alle aufhören (müssen) zu stottern.“
Der siebenjährige Hanno: Über Vermeidung und Scham
Hanno ist in der 1. Klasse. Er spielt Fußball, will LKW-Fahrer werden und er stottert, seit er 3 Jahre alt ist. Es gab Zeiten, in denen er kaum Stottersymptome hatte, aber in den letzten Monaten ist das Stottern immer häufiger und stärker aufgetreten. Der Kinderarzt verschrieb logopädische Therapie. Und da ist er nun, sitzt in meinem Therapiezimmer, neben ihm seine Eltern. Mit den Eltern habe ich bereits ein erstes Beratungsgespräch ohne Hanno geführt.
„Weißt du, warum die hier bist, Hanno?“ frage ich ihn, während wir nebenbei UNO spielen. „Weil ich ja stottere.“ antwortet Hanno. Innerlich freue ich mich, dass Hanno dies so klar aussprechen kann. Ich frage beiläufig weiter: „Wie findest du das denn, dass du stotterst?“ Hanno schaut kurz hoch: „Ich hab kein grün, ich muss eine K-k-k-k-k-k-k-karte aufnehmen.“
Er findet es sichtlich unangenehm, mit mir übers Stottern zu sprechen. Ich sehe, dass er mit Anspannung auf das Stottersymptom reagiert und versucht, dagegen anzukämpfen. Sehr verständliche Reaktion. Allerdings erhöht dieses Ankämpfverhalten die Wahrscheinlichkeit für weitere und schwerere Stottersymptome.
Mit den Eltern habe ich besprochen, dass ich in Gegenwart von Hanno pseudostottern werde. Pseudostottern bedeutet: Ich stottere bewusst (zum Beispiel, um Sprechtechniken zu üben). In diesem Fall will ich sehen, wie Hanno auf mein Stottern reagiert.
Ich lege eine UNO-Karte und sage: „Du b-b-b-b-b-b-b-b-bist dran!“ Ich sehe, dass Hanno peinlich berührt wegschaut. Ein Hinweis für mich, das Stottern für ihn schambehaftet sein könnte.
Das Stottern als Forscher von außen betrachten
Wie oben beschrieben verlieren 4 von 5 Kindern das Stottern bis zur Pubertät wieder. Diese Remission wird wahrscheinlicher, wenn ein Kind möglichst locker stottert – mit wenig Anstrengung und ohne gegen das Stottern anzukämpfen. Damit ein Kind ein entspannteres Stottern umsetzen kann, ist häufig eine Phase der Desensibilisierung nötig, damit Stottersymptome möglichst keine Gefühle der Scham und der Angst mehr hervorrufen.
Mit Hanno beobachte ich im ersten Schritt sachlich von außen wie ein Forscher, was überhaupt beim Stottern passiert. Wir schauen uns Videos von Menschen an, die stottern und analysieren gemeinsam: Was passiert, wenn andere stottern? Wie genau sehen die verschiedenen Stottersymptome aus? Ich mache verschiedene Stottersymptome vor (Wiederholungen, Dehnungen, Blockierungen) und Hanno beschreibt, was er hört. Wir gehen sogar zum Bäcker nebenan und Hanno beobachtet mich, wie ich stotternd ein Brötchen bestelle.
Im zweiten Schritt, wenn Hanno unbefangen über das Stottern „der anderen“ sprechen kann, nähern wir uns seinen eigenen Symptomen. Auch hier beobachten wir als Forscher, was passiert. Wir malen, wo das Stottern bei ihm im Körper passiert und beobachten, wie locker oder angestrengt das Stottern ist. Hanno lernt das Pseudostottern, um damit im dritten Schritt Sprechtechniken zu üben, die das Stottern leichter machen.
"Ich darf stottern!"
Wir beschäftigen uns also intensiv und ganz direkt mit dem Stottern. Und je entspannter Hanno mit den eigenen Stottersymptomen wird, desto mehr fühlt er: „Es ist okay zu stottern. Ich darf stottern.“
Bei manchen Kindern werden die Stottersymptome deshalb kurzzeitig häufiger. Das ist tatsächlich ein gutes Zeichen, denn es zeigt, dass das Kind nicht mehr (oder weniger oft) bestimmte Wörter oder bestimmte Situationen vemeidet aus Angst, dann zu stottern und dadurch Scham und noch mehr Angst zu erleben. Erst mit dieser entspannteren Haltung gelingt es, Sprechtechniken auch beim echten Stottern anzuwenden.
Der Satz „Ich darf stottern“ zeigt die Grundhaltung, die ich mir für stotternde Kinder wie Hanno wünsche: Dass sie die Therapie mit einer selbstbewussten Einstellung verlassen und wissen und fühlen: „Ich bin wertvoll, egal ob ich stottere oder nicht. Ich darf stottern!“
4 Kommentare zu „Ich darf stottern: Ein Schlüsselsatz in der Therapie mit stotternden Kindern“
Liebe Wiebke, ich danke dir für diesen spannenden Beitrag zu meiner Blogparade. Es ist für mich eine sehr berührende Geschichte, wie du Hanno mit diesem Satz Selbstvertrauen mitgibst und ihm Wachstum ermöglichst.
Liebe Heike, dein Thema „Schlüsselsätze“ hat mich sehr inspiriert. Vielen Dank für diese tolle Blogparade! Viele Grüße von Wiebke
Vielen Dank für diesen wertvollen Beitrag!
Liebe Melanie,
vielen Dank für deinen Kommentar! Es freut mich wirklich sehr, dass dir der Blogartikel weiterhelfen konnte. Deshalb schreibe ich hier! Danke! Viele Grüße von Wiebke
Hallo, hier schreibt Wiebke!
Ich bin Logopädin, Autorin dieses Blogs und Mutter von drei Kindern. Hier findest du Infos zur Sprachentwicklung und Tipps, wie du dein Kind beim Sprechenlernen kompetent und spielerisch begleiten kannst.
Viel Spaß beim Lesen! 🤩