Wenn ein Kind mit 2 Jahren noch nicht spricht, beginnen sich viele Eltern Sorgen zu machen. So ging es auch Lea. Schon früh hatte die Ergotherapeutin und Mama von drei Kindern das Gefühl, dass sich die Sprachentwicklung ihres Sohnes Lennard nicht altersgerecht entwickelt. Schließlich bekam sie für ihren Sohn die Verdachtsdiagnose „Verbale Entwicklungsdyspraxie (VED)“.
Seitdem hat sich Lea tief in das Thema dieser Sprechstörung eingearbeitet und hilft auf ihrem Instagramkanal @wir.und.die.ved inzwischen auch anderen Eltern, die ganz neu mit dieser Diagnose konfrontiert werden.
Im Interview erzählt Lea unter anderem, wann ihr zum ersten Mal aufgefallen ist, dass die Sprachentwicklung ihres Sohnes anders ist, wie es zur Verdachtsdiagnose kam und wie es ihr und ihrem Sohn in der Sprach-Rehaklinik in Werscherberg ging.
Inhalt des Artikels
Wiebke: Hallo Lea, wer bist du, wo wohnst du und was machst du?
Lea: Ich bin 31 Jahre alt, von Beruf Ergotherapeutin und wohne mit meinem Mann, unseren drei Kindern und ein paar Tieren im Raum Mönchengladbach. Unsere Kinder sind 9, 3 und 1 Jahre alt. Gerade bin ich noch in Elternzeit, ab Ende Januar fange ich wieder an, als Ergotherapeutin zu arbeiten.
Wir beide haben uns ja über Instagram kennengelernt. Dort hast du den spannenden Account wir.und.die.ved gegründet. Wie kam es dazu?
Vorletztes Jahr zu Weihnachten haben wir die Verdachtsdiagnose Verbale Entwicklungsdyspraxie bei unserem Sohn Lenny bekommen. Und ich habe hilfesuchend nach Kontakten gesucht, denn im Internet ist über VED wirklich wenig zu finden. Es gibt kaum Erfahrungsberichte. Ich habe mich dann in verschiedensten Foren und in Facebookgruppen angemeldet und habe versucht, mich zu vernetzen.
Bei Instagram habe ich verschiedene Eltern gefunden, die „VED“ im Accountnamen oder als Hashtag hatten und habe sie einfach direkt angeschrieben. Dort wurde mir so sehr geholfen! Ich habe so tolle und wichtige Tipps bekommen, die man sonst von keiner Seite aus bekommt, weder von Ärzten noch von Therapeuten. Ich habe mir im Laufe der Zeit ganz viel Wissen selbst erarbeitet.
Irgendwann habe ich gedacht: Ich möchte mein Wissen weitergeben und weiterhelfen. Es gibt so wenig Leute, die einem offen und ehrlich über den Alltag mit einem Kind mit VED berichten. Es gibt wenig Information, es gibt wenig Hilfestellungen. Ich habe dann vor genau einem Jahr meinen Account gegründet und dann einfach angefangen, über Lenny zu erzählen, aber auch von unserem normalen Alltag mit drei Kindern – alles, womit ich mich wohlfühle und was ich teilen möchte, ohne zu Persönliches über die Kinder zu erzählen.
Außerdem wollte ich mir das alles mal von der Seele schreiben. Ich wollte loswerden, wie es mir geht, denn im Umfeld wurde mir immer gesagt: „Mach dir keine Sorgen!“ Aber für mich war die Diagnose VED wie eine dicke Kröte, die ich erstmal schlucken musste. Warum das so schlimm für mich ist, haben in meinem Umfeld viele nicht verstanden.
Mein Ziel ist es, die Störung als solche sichtbarer machen, damit Eltern, die die Diagnose VED bekommen, eine Anlaufstelle haben. Ich habe sie am Anfang nicht gehabt, hätte mir aber gewünscht, sie zu haben.
Welche Fragen und Rückmeldungen bekommst du von Eltern, die sich bei dir melden?
Ich bekomme wirklich viele Fragen. Auch wenn ich nur ein kleines Profil habe, bekomme ich fast täglich unfassbar lange Nachrichten. Eltern haben so viele Fragen, die ich auch am Anfang hatte: Was eine VED ist, wie die Prognosen sind, was es für Therapiemethoden gibt. Jetzt kann ich ihnen mit meiner Erfahrung weiterhelfen. Ich rede ganz offen über den Umgang mit der VED und das hilft vielen Eltern.
Das ist für hilfesuchende Eltern so wertvoll! Du weißt ja genau, wie sich die Eltern fühlen und wo die Probleme sind.
Ja, ich habe ja auch zwei Perspektiven. Als Ergotherapeutin habe ich auch Erfahrung mit Kindern mit diversen Störungen sammeln können, aber wirklich nachvollziehen, wie sich Eltern fühlen, deren Kind eine Störung diagnostiziert bekommt – das kann man nur nachempfinden, wenn man es selbst erlebt hat. Durch diese Erfahrung kann ich jetzt sicherlich noch empathischer und verständnisvoller auf meine Patienten eingehen.
Kannst du kurz erklären, was eine VED überhaupt ist? Und warum ist bei deinem Sohn die Diagnose nicht eindeutig?
Ich erkläre meinem Umfeld die VED so: Das Gehirn weiß grundsätzlich, wie man spricht, aber die Zunge bei einer VED nicht immer so wie sie es soll. Lenny weiß, was er sagen will. Er ist total kommunikativ und möchte sich mitteilen, aber manchmal reagiert die Zunge halt nicht so, wie er das möchte.
Die Verdachtsdiagnose VED besteht jetzt seit etwas mehr als einem Jahr. Es traut sich keiner so richtig, die VED fest zu diagnostizieren, einfach aus dem Grund, weil Lenny noch sehr jung ist. Er ist ja erst drei Jahre alt und würde zusätzlich laut Logopädin auch noch ins „Late Talker“-Profil passen. Er zeigt aber sehr viele Anzeichen einer VED. Zum Beispiel hat er als Baby nie wirklich Silben gebrabbelt. Seine Töne klangen zwar wie eine Satzmelodie, aber es war nicht wie bei meiner großen Tochter, dass echte Silben kamen.
Dir ist also früh aufgefallen, dass Lennard nicht brabbelt, wie andere Babys es machen. Wie ging es dann mit seiner Sprachentwicklung weiter?
Bis er zwei Jahre alt war, hat er nur diese Töne gemacht, keine Silben und auch keine Wörter gesprochen. Ein paar Tage nach seinem zweiten Geburtstag hat er das erste Mal „Mama“ gesagt und dann kamen langsam ein paar neue Wörter. Vor einem Jahr ungefähr konnte er 10 Wörter sprechen, da waren aber auch Wörter wie „da“ und „tüt“ dabei, die viele Dinge bedeuteten.
Wann hast du dir das erste Mal Sorgen gemacht, dass Lennards Sprachentwicklung auffällig sein könnte?
Ich habe den Kinderarzt angesprochen, als Lenny 1 ½ Jahre alt war, weil mir der große Unterschied zur Sprachentwicklung seiner Schwester aufgefallen ist. Ich weiß zwar, man soll Geschwister nicht vergleichen. Trotzdem hatte ich das Gefühl: „Da stimmt was nicht.“ Der Kinderarzt hat mir nur gesagt, ich würde mir zu viele Gedanken machen.
Bei der nächsten U-Untersuchung habe ich das dann wieder angesprochen, aber wurde wieder beruhigt, Lenny sei halt ein Late Talker und das würde alles noch kommen.
Ich habe mich nicht ernst genommen gefühlt und den Kinderarzt gewechselt. Der hat uns dann sofort zum HNO-Arzt geschickt. Dort wurde ein Hörtest gemacht und wir haben eine Überweisung für eine Pädaudiologin bekommen, die weitere Untersuchungen und Tests gemacht hat. Dort war auch eine Logopädin, die die Sprache von Lenny genau untersucht hat.
Gemeinsam haben mir die Ärztin und die Logopädin bei einem Diagnosetermin im Dezember 2021 mitgeteilt, dass sie den Verdacht auf eine Verbale Entwicklungsdyspraxie haben.
Wie ging es dir, als du gehört hast, dass dein Sohn eine Verbale Entwicklungsdyspraxie haben könnte?
Am Anfang war ich kurz erleichtert. Ich hab gedacht: „Mein Bauchgefühl hatte recht! Ich bin drangeblieben und jetzt weiß ich, was es ist.“ Ich war im ersten Moment einfach nur dankbar, dass ich jetzt Klarheit habe. Und die Ärztin hat mir auch versichert, dass Lenny irgendwann sprechen lernen wird.
Ja und dann habe ich natürlich als erstes zu Hause gegoogelt, was eine VED überhaupt ist. Und so schlich sich „die dicke Kröte“ in meinen Hals. Ich hab mich gefragt, wie ich mich eben noch gefreut haben kann, denn das war ja eine wirklich schlimme Diagnose, die vielleicht das ganze Leben von Lenny beeinträchtigen wird. Kann er normal zur Schule gehen? Wird er gemobbt werden? Wird er glücklich? Kann er den Beruf lernen, den er will?
Ich weiß, da war Lenny noch nicht mal drei Jahre alt. Aber die Gedanken kommen trotzdem.
Oh ja, diese Gedanken kann ich gut nachvollziehen! Auch die Erleichterung am Anfang, dass dich jemand endlich ernst nimmt. Vorher haben alle nur gesagt: "Mach dir nicht so viele Sorgen!" Aber du hast ja schon lange gespürt, dass da was nicht in Ordnung ist.
Ja, diese ganzen Kommentare waren wirklich schwierig. „Was hast du denn, dein Kind ist doch gesund!“ haben immer alle gesagt. Wenn er dann mal ein neues Wort gelernt hat, kam gleich: „Siehste, du hast dir umsonst Sorgen gemacht.“ Solche Sprüche kommen auch jetzt noch. Dass Lenny seit einem Jahr zur Logopädie geht und sich jedes Wort hart erkämpft, das wird nicht gesehen.
Was ist für dich das Schwierigste an der Diagnose "Verbale Entwicklungsdyspraxie"?
Dass es keine Prognose gibt. Wie es weitergeht mit der Sprachentwicklung, hängt von so vielen Faktoren ab, die man nicht beeinflussen kann. Wie sieht es nächstes Jahr aus? Wird Lenny irgendwann ganz normal sprechen können? Kann er zur normalen Schule gehen? Das weiß ich alles nicht. Kann er seine Träume leben? Das sind große Sorgen in meinem Kopf.
Am meisten Angst habe ich davor, dass ich ihn nicht vor Mobbing in der Schule schützen kann. Ich versuche jetzt schon, sein Selbstbewusstsein so aufzubauen, dass er dem später standhalten kann. Das finde ich sehr schlimm: Die Gewissheit, dass ich mein Kind jetzt darauf vorbereiten muss, dass es irgendwann nicht so genommen wird, wie es ist. Er ist so ein liebevoller, gutmütiger Kerl. Ich habe einfach Angst, dass er eine schwierige Schulzeit vor sich hat.
Wie geht es Lennard denn im Kindergarten?
Da habe ich großes Glück. Dort wird mit Lenny sehr verständnisvoll umgegangen. Angst habe ich eher davor, wenn er zur Schule kommt. Ich weiß leider aus eigener Erfahrung, wie gemein Kinder zueinander sein können.
Vor Kurzem seid ihr zur Sprach-Reha in Werscherberg gewesen. Wie hat es euch dort gefallen?
Die Zeit davor hatte ich sehr gemischte Gefühle, weil ich ja ohne meine beiden anderen Kinder gefahren bin. Dort war es dann eine richtig gute Zeit.
Ich bin total begeistert von dem tollen Konzept in Werscherberg. Alle waren sehr nett und sehr wohlwollend uns gegenüber, sehr kindorientiert. Auch die Kommunikation zwischen Eltern und den Therapeuten fand ich sehr achtsam. Es wurde immer sofort besprochen, wenn den Therapeuten etwas aufgefallen ist.
Die Häuser sind zwar eher einfach und etwas in die Jahre gekommen, aber wirklich okay. Ich habe mir einfach eine Lichterkette mitgenommen, um unser Zimmer etwas gemütlicher zu gestalten. Und die Anlage ist sehr gepflegt mit tollen Möglichkeiten, draußen zu spielen.
Wie war die Entwicklung von Lennard in der Reha?
Er war knapp drei Jahre alt, als wird in der Sprachreha waren. Manche Therapeuten waren sich am Anfang unsicher, ob die vielen Termine für Lenny nicht zu intensiv für einen Dreijährigen sind. Er hatte 4x pro Woche logopädische Therapie, dazu noch Ergotherapie und Sporttherapie.
Aber er hat das wirklich gerockt! Und eine ganz besondere Beziehung zu seiner Logopädin dort aufgebaut. Sie konnte ihn schließlich sogar innerhalb des Mundes behandeln und hat VEDIT* bei ihm eingeführt. Das ist für Lenny wirklich erstaunlich, weil er sonst ziemlich zurückhaltend ist.
*Anmerkung: VEDIT ist eine Therapiemethode bei VED
In den 4 Wochen hat er 30 neue Wörter gelernt. Und sein Selbstbewusstsein ist richtig stark angestiegen. Das merke ich auch, seit er wieder zu Hause ist. Er hat sich zum Beispiel das erste Mal getraut – und es auch selbst eingefordert – bei seinen Großeltern zu übernachten.
Das klingt großartig, Lea! Wie schön, dass ihr so gute Erfahrungen in der Sprach-Reha hattet.
Meine letzte Frage an dich: Was rätst du Eltern, die bemerken, dass ihr Kind nicht anfängt zu sprechen?
Lass dich nicht abwimmeln. Hör auf dein Bauchgefühl und werde selbst aktiv. Beschütze dein Kind. Das ist mein wichtigster Tipp: Lass dein Kind immer spüren, dass es bei dir sicher ist und nimm es so, wie es ist.
Das ist ein schönes Schlusswort, Lea. Vielen Dank, dass du so offen über deine Erfahrungen und Gefühle gesprochen hast. Damit hilfst du bestimmt vielen Eltern, die sich ähnliche Sorgen wie du machen. Danke für unser Gespräch!
Lea ist Ergotherapeutin und Mama von drei Kindern. Bei ihrem dreijährigen Sohn wurde die Verdachtsdiagnose Verbale Entwicklungsdyspraxie (VED) gestellt.
Auf Instagram setzt sich Lea aktiv dafür ein, die Sprechstörung VED bekannter zu machen und Eltern zu informieren.
Kontakt: Lea @wir.und.die.ved
Drei Leseempfehlungen für dich:
Informationen über Symptome und Therapiemöglichkeiten bei einer VED bekommst du im Artikel „Was ist eine Verbale Entwicklungsdyspraxie?„
Ein weiteres Interview mit einer Mutter zur Sprachentwicklungsstörung ihres Kindes bekommst du im Interview „Wie es ist, wenn ein Kind nicht verstanden wird“.
Jessica Huttinga erzählt im Interview, wie sie es geschafft hat, selbstbewusst mit ihrer Verbalen Entwicklungsdyspraxie als junge Erwachsene umzugehen.
Hallo, hier schreibt Wiebke!
Ich bin Logopädin, Autorin dieses Blogs und Mutter von drei Kindern. Hier findest du Infos zur Sprachentwicklung und Tipps, wie du dein Kind beim Sprechenlernen kompetent und spielerisch begleiten kannst.
Viel Spaß beim Lesen! 🤩