Selbstbewusst mit Sprechstörung leben: Interview mit Jessica Huttinga

Interview mit Jessica Huttinga

Auf ihrem YouTube-Kanal, bei Facebook und bei Instagram hilft Jessica Huttinga als Erfahrungsexpertin, über die Sprechstörung Verbale Entwicklungsdyspraxie (VED) aufzuklären und sie bekannter zu machen. Ich bin total beeindruckt von Jessicas Ausstrahlung und der Selbstverständlichkeit, mit der sie über ihre Sprechstörung spricht und habe mich deshalb riesig gefreut, als sie mir für dieses Interview zugesagt hat. 

Inzwischen ist Jessica auch international als Interviewgast sehr gefragt und hat eine neue Ausbildung begonnen. Deshalb bin ich sehr dankbar, dass sie sich die Zeit genommen hat, auf meine Fragen zu antworten.

Mein Name ist Jessica Huttinga, ich bin 22 Jahre alt und wohne in den Niederlanden. Seit Anfang Februar habe ich mit der Ausbildung Fachkräfte im Gastgewerbe angefangen. Diese Ausbildung dauert 3 Jahre. Ich arbeite in einem Unternehmen mit und lerne von dort aus und genau deshalb finde ich diese Ausbildung sehr interessant. In der Praxis lernt es sich leichter anstatt nur aus Büchern. 

Mir ist dieses Thema sehr wichtig, da die verbale Entwicklungsdyspraxie noch relativ unbekannt ist. Die meisten Leute, die ich treffe, denken, dass etwas mit meinem IQ nicht stimmt, dass ich taub bin oder dass ich aus dem Ausland komme, obwohl das überhaupt nicht der Fall ist.

2. Wann wurde bei dir eine VED festgestellt? Wie hast du damals als Kind gesprochen und wie sprichst du jetzt?

Mit 2 Jahren habe ich nur 10 Wörter gesprochen und die meisten davon waren erfunden. Im Durchschnitt kann ein Kleinkind mit 2 Jahren locker 200 Wörter sprechen. Dann kannst du dir vorstellen, wie frustrierend das für mich war. Ich wollte viel sagen, aber es kam einfach nicht richtig heraus. 

Ich war fast 4 Jahre alt wo meine Mutter sich Sorgen machte, weil ich mit 4 Jahren in die Grundschule musste. Wir bekamen dann eine Überweisung zur Logopädin, weil mein Sprechen nicht besser wurde, obwohl ich zur Kita ging. Am Ende wurde bei mir recht schnell verbale Entwicklungsdyspraxie von der Logopädin diagnostiziert, weil sie das schon sehr schnell vermutete. 

Seit ungefähr 10 Jahren bin ich ausbehandelt, das bedeutet, dass ich immer auf diesem Niveau sprechen werde. Auch wenn ich eine alte Oma bin, wird es keine Verbesserung mehr geben. Im Allgemeinen denken die meisten Leute, dass ich mit einem Akzent spreche, was aber eigentlich an meiner verbalen Entwicklungsdyspraxie liegt.

3. Viele Eltern haben Angst, dass ihr Kind ausgegrenzt wird oder Mobbing erlebt, weil es eine Sprechstörung hat. Wie ging es dir selbst als Kind?

Selber war ich 3 Jahre in der Sprachheilschule und bin total begeistert davon. Die Kinder, die diese Schule besuchten, hatten alle Schwierigkeiten mit der Sprache oder dem Sprechen. Daher gab es hier überhaupt keine Ausgrenzung. 

Als ich 8 Jahre alt war, durfte ich wieder zur Grundschule zurück. Von da an bin ich immer zur Grundschule gegangen, habe eine Ausbildung angefangen und eine Arbeitsstelle gehabt. Natürlich gab es Mobbing-Momente bei mir, aber am Ende hat es mich nur stärker gemacht. Wenn ich zum Beispiel diese Erfahrungen nicht gehabt hätte, wäre ich nicht dort, wo ich jetzt stehe.

Jessica als Kind in einer Sprachheilschule.
Jessica als Kind mit ihren Freundinnen in der Schule.

4. Was sind Herausforderungen für dich als junge Erwachsene im Alltag? Wie ist dein beruflicher Weg?

Herausforderungen wird es immer geben.

Persönlich finde ich Telefonieren schwierig. Für andere ist dies das Einfachste, aber wenn man eine Sprechstörung hat und der andere ist sich dessen nicht bewusst, kann dies kompliziert werden. Vor allem, wenn man sich zum Beispiel kennenlernen will. Ich frage normalerweise, ob es statt eines Telefongesprächs auch persönlich oder online gehen kann. Ich bin jemand, der gerne mitdenkt und eine andere Lösung findet. 

Ansonsten komme ich sehr gut in der Gesellschaft zurecht und habe außer in der Schule keine weitere Unterstützung. In der Schule bekomme ich mehr Zeit für Tests, Rechtschreibfehler zählen nicht mit und ich darf einen Spickzettel bei der Präsentation dabei haben.

5. Als Erfahrungsexpertin gehst du sehr echt und offen mit deiner Sprechstörung um und traust dich, darüber auf Social Media zu sprechen. Was gibt dir Selbstvertrauen?

Ich habe bereits den Punkt überschritten, an dem es mir noch was ausmacht, was andere über mich denken. Ich habe eben eine Sprechstörung und werde es auch immer haben. 

Auch ich muss jeden Tag mein Bestes geben, um verständlich sprechen zu können, und so können auch die anderen Menschen ihr Bestes geben, um mich zu verstehen. Am Anfang kann es etwas schwieriger sein und das verstehe ich auch, aber auf Dauer gewöhnt man sich einfach daran.

Jessica Huttinga bei einem Event ihrer Ausbildung.
Jessica während eines Events im Rahmen ihrer Ausbildung zur Fachkraft im Gastgewerbe.

6. Kannst du Eltern einen Tipp geben, wie sie ihrem Kind helfen können, ein gutes Selbstwertgefühl zu entwickeln? Wie ihr Kind stark und selbstbewusst trotz Sprechstörung werden kann?

Ich finde, man sollte offen damit umgehen und nicht immer betonen, dass es eine Sprechstörung hat, denn das hilft dem Kind natürlich auch nicht. Früher habe ich kaum gemerkt, dass andere Kinder oder Lehrer zum Beispiel Probleme damit hatten, mich zu verstehen. Ich habe einfach mühelos mit ihnen gesprochen und ich denke, das ist das Wichtigste. 

Du musst nur du selbst sein und akzeptieren, dass du das hast. Natürlich ist diese Diagnose nicht einfach, aber sieh mich an, du kannst trotzdem damit leben. Ich habe mich auch für eine Ausbildung entschieden, in der ich mit vielen Menschen reden und kommunizieren werde. Ich sage immer: Obwohl ich eine Sprechstörung habe, darf ich auch im Vordergrund zeigen, was in mir steckt, denn das hindert mich nicht daran!

Vielen Dank, Jessica, dass du meine Fragen so ausführlich und persönlich beantwortet hast. Ich wünsche dir alles Gute für deine Ausbildung und deinen weiteren Weg!

Jessica Huttinga

Jessica Huttinga (22) macht eine Ausbildung zur Fachkraft im Gastgewerbe. Sie wohnt in den Niederlanden, ist zweisprachig deutsch/niederländisch aufgewachsen und hat eine Sprechstörung (Verbale Entwicklungsdyspraxie). 

Auf Social Media ist Jessica Botschafterin und Erfahrungsexpertin für Sprechstörungen und ist mit ihrem offenen Umgang ein großes Vorbild und Hilfe für ratsuchende Eltern, Kinder und Jugendliche, zum Beispiel auf ihrem YouTube-Kanal und ihrem Instagramaccount @jessica huttinga.

Weitere hilfreiche Infos zur Verbalen Entwicklungsdyspraxie bekommst du in diesen zwei Artikeln: 

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Wiebke Schomaker Logopädin

Hallo, hier schreibt Wiebke!

Ich bin Logopädin, Autorin dieses Blogs und Mutter von drei Kindern. Hier findest du Infos zur Sprachentwicklung und Tipps, wie du dein Kind beim Sprechenlernen kompetent und spielerisch begleiten kannst.

Viel Spaß beim Lesen! 🤩

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