Dass Kinder mit mehreren Sprachen aufwachsen, ist für viele Familien Alltag. Gleichzeitig begegnen mehrsprachigen Familien viele Vorurteile und Mythen – vor allem, wenn ihr mehrsprachiges Kind eine Sprachentwicklungsstörung entwickelt.
Als Logopädin bekomme ich viele Fragen zur Mehrsprachigkeit gestellt.
Diese drei Fragen sind besonders häufig:
- Mein Kind ist Late Talker. Liegt es daran, dass es zweisprachig aufwächst?
- Wie wichtig ist es, dass ich konsequent in meiner Sprache mit meinem Kind spreche? Im Alltag ist das nicht immer so leicht umzusetzen.
- Soll ich mit meinem Kind nur eine Sprache sprechen, wenn es eine Sprachentwicklungsstörung hat?
Diese und weitere Fragen habe ich Katharina van der Veen gestellt. Sie ist Erziehungswissenschaftlerin und Mutter von zwei dreisprachig aufwachsenden Töchtern. Auch beruflich beschäftigt sich Katharina mit der mehrsprachigen Erziehung in den ersten Lebensjahren.
In unserem Interview beantwortet Katharina meine Fragen zur Mehrsprachigkeit und gibt Tipps für Eltern, wie ihr Kind mit Freude und Leichtigkeit mehrere Familiensprachen lernen kann.
Inhalt des Artikels
Hallo Katharina! Danke, dass ich dich mit meinen Fragen löchern darf. Wie kommt es eigentlich, dass du dich besonders mit mehrsprachiger Erziehung beschäftigst?
Ich fand das Thema schon immer super spannend und weiß aus eigener Erfahrung, wie wertvoll Sprachkenntnisse sind. Meine eigenen Eltern haben es leider verpasst, mir noch eine zweite Sprache mit auf den Weg zu geben.
Mein Mann ist Niederländer – gemeinsam sprechen wir Englisch miteinander und unseren zwei Kindern bringen wir unsere Muttersprachen bei. Das heißt, ich beschäftige mich nicht nur theoretisch, sondern jeden Tag auch sehr praktisch mit dem Thema.
Mir begegnet immer wieder der Mythos, dass Kinder, die mit mehreren Sprachen aufwachsen, langsamer in ihrer Sprachentwicklung seien. Was ist deine Erfahrung?
Ja, diese Aussage höre ich ganz häufig – sowohl im Arbeitskontext, aber auch als Mutter, um Beispiel von der Kinderärztin und der Erzieherin meiner Kinder. Tatsächlich ist dem nicht so – es ist ein Mythos! Es ist wichtig, dass Eltern (und auch Fachkräfte!) wissen, dass mehrsprachig aufwachsende Kinder nicht später anfangen zu sprechen als einsprachige.
Es kann aber sein, dass eine der Sprachen erst später aktiv gesprochen wird als die andere. Es ist daher wichtig, auf das Kind als Ganzes zu schauen, wenn es um die Sprachentwicklung geht.
Der Meilenstein, dass Kinder mit 2 Jahren mind. 50 Wörter sprechen können, gilt für mehrsprachige Kinder ebenso – allerdings gilt hier: 50 Wörter für alle Sprachen zusammen – nicht pro Sprache!
Und was denkst du: Ist es für Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen oder für Late Talker überfordernd, mit mehr als einer Sprache aufzuwachsen? Diesen Ratschlag hören Eltern immer wieder und sind dann natürlich sehr verunsichert.
Generell gilt: Mehrsprachige Kinder sind genau so häufig oder selten von Sprachentwicklungsstörungen (SES) betroffen wie einsprachige Kinder. Das heißt, mehrsprachiges Aufwachsen ist keine Ursache für SES oder Late Talking. Nicht selten wird Eltern geraten, eine Sprache wegzulassen, wenn ihre Kinder Herausforderungen mit der Sprachentwicklung haben. Da die Ursachen aber woanders liegen, bringt dies keinen Gewinn, sondern einen großen Verlust.
Wenn Kinder zur logopädischen Behandlung gehen, ist es empfehlenswert, sich an Logopäd*innen zu wenden, die sich mit der mehrsprachigen Sprachentwicklung aktiv auseinander gesetzt haben. Eine SES betrifft übrigens immer alle Sprachen des Kindes.
Gibt es einen häufigen Fehler, den du immer wieder in der mehrsprachigen Erziehung siehst?
Fehler würde ich es nicht nennen, sondern eher die falsche Erwartung, dass es ganz ohne Probleme klappen wird, wenn jede*r einfach nur seine Sprache mit dem Kind spricht.
Natürlich haben Kinder den riesigen Vorteil, dass sie sehr schnell Sprachen lernen können – aber genau diese Vorstellung trägt meiner Erfahrung nach dazu, dass einige Eltern sich nicht in dem Maße darum bemühen, dass die Kinder noch mehr davon profitieren. Es gibt leider zu viele Kinder, die ihre Minderheitssprache nicht oder nur wenig sprechen. Und das ist einfach super schade!
Häufig lesen Eltern aber auch im Internet, dass zum Beispiel „Eine Sprache, eine Person“ das beste Sprachmodell für Kinder ist. Dem stimme ich nicht zu. In einigen Fällen ist das sicherlich richtig, aber jede Familiensituation ist einzigartig, sodass genau geschaut werden muss, wie die Mehrsprachigkeit am meisten profitieren kann.
Es ist nicht immer leicht für Eltern, ihr Kind mehrsprachig zu erziehen. Was sind aus deiner Sicht die größten Hürden, die es Eltern (und Kindern) schwer machen?
Für mich sind es vor allem zwei Dinge:
Zum einen wissen viele Eltern nicht, was ihr optimales Sprachmodell ist und zum anderen sind unzureichende Kontaktmöglichkeiten zur Minderheitssprache eine große Herausforderung für Eltern und Kinder: Es fehlen Materialien (z.B. Bücher oder Spiele) und es fehlen Kontaktpartner*innen, um die Minderheitssprache im Alltag zu hören und anwenden zu können.
Für Kinder ist der regelmäßige Kontakt zur Sprache aber sehr wichtig. Erstens, um sie lernen zu können und zweitens, damit die Sprache beim Kind als relevant eingestuft wird. Ist das nicht der Fall und die Kinder verstehen, aber sprechen die Sprache nicht, dann ist das häufig sehr frustrierend für die Eltern. Das führt dann manchmal dazu, dass die Eltern irgendwann aufhören, ihre Sprache mit ihrem Kind zu sprechen.
Hast du einen Tipp für Eltern, wie Mehrsprachigkeit im Alltag leichter gelingen kann?
Dem Kind keinen Druck machen. Die spüren nämlich alles. Natürlich wollen wir Eltern, dass unsere Kinder unsere Sprache sprechen – aber sie sollen es tun, weil es ihr eigener Wille ist und nicht, weil wir es von ihnen erwarten. Spaß und eigene Motivation sind unheimlich wichtig und müssen für die Kinder spürbar sein. Wir Erwachsene lernen dann auch leichter und das ist bei Kindern nicht anders.
Du bietest Beratungen für Eltern an. Was genau kann man bei dir lernen?
Ich biete Einzelberatungen an – darin geht es dann meist um das richtige Sprachmodell für die Familie oder um bestimmte Herausforderungen, die die Familien haben.
Zudem können Eltern in meinem Onlinekurs „Kinderleicht mehrsprachig“ lernen, wie sie ganz leicht und unkompliziert die Mehrsprachigkeit fördern können – ohne großen zusätzlichen Aufwand, aber dafür sehr effektiv mehr Minderheitssprache in den Alltag integrieren können.
Super, dass Eltern bei dir eine Anlaufstelle haben. Vielen Dank, Katharina, dass du meine Fragen zur mehrsprachigen Erziehung so fundiert beantwortet hast! Danke für dieses spannende Interview!
Katharina van der Veen ist Erziehungswissenschaftlerin und Mutter von zwei dreisprachig aufwachsenden Töchtern. Sie berät Eltern, wie mehrsprachige Erziehung mit Leichtigkeit und Spaß gelingen kann.
Auch auf Instagram @einfach_mehrsprachig teilt Katharina viele hilfreiche Tipps rund um die mehrsprachige Erziehung.
Zum Weiterlesen:
Im Gespräch mit der Sprachtherapeutin Dani Cullen sprechen wir unter anderem darüber, ob du einen Late Talker auch zu viel fördern kannst und warum es gleichzeitig nicht sinnvoll ist, einfach nur abzuwarten.
Hallo, hier schreibt Wiebke!
Ich bin Logopädin, Autorin dieses Blogs und Mutter von drei Kindern. Hier findest du Infos zur Sprachentwicklung und Tipps, wie du dein Kind beim Sprechenlernen kompetent und spielerisch begleiten kannst.
Viel Spaß beim Lesen! 🤩