Interview über die Sprachentwicklungsstörung

Interview: Wenn Sorgen nicht ernst genommen werden

Christinas dreijähriger Sohn hat eine Sprachentwicklungsstörung. Schon früh hat Christina bemerkt, dass sich die Sprache ihres Sohnes auffällig entwickelt.

Im Interview erzählt sie, wie sie dafür kämpfen musste, in ihrer Sorge ernst genommen zu werden und Hilfe zu bekommen.

Christina, wann ist dir aufgefallen, dass die Sprachentwicklung deines Sohnes verzögert ist?

Mein Sohn kam mit 13 Monaten in die Krippe und war ab dem Zeitpunkt quasi dauerkrank. Vor allem hatte er dann ständig diese Paukenergüsse und bestimmt zweimal im Monat eine neue Mittelohrentzündung.

Ich hatte das Gefühl, er hört mich überhaupt nicht mehr richtig. Er hat zwar schon reagiert. Aber es war jetzt nie so, dass ich das Gefühl hatte, er spricht mir nach. Andere Kinder in unserem Kindergarten haben dann angefangen, Wörter, die sie einmal gehört haben, einfach nachzusprechen. Das hat mein Sohn nie gemacht.

Ich bin dann zum Kinderarzt und zum HNO-Arzt gegangen, aber die haben nur gesagt: „Ist halt ein Paukenerguss.“ Ich wollte gerne eine OP für Röhrchen im Trommelfell und die Polypen entfernen lassen, aber der HNO-Arzt meinte, so junge Kinder operiert er nicht.

Bei jeder Kontrolle hieß es: Paukenerguss ist immer noch da. Und die Hörtests waren unterirdisch. Ich habe weiter gedrängt, dass er die OP bekommen soll und mit knapp 2 Jahren wurde er dann endlich operiert.

Nach der OP hat der HNO-Arzt gesagt, es war gut, dass er operiert hat. Denn er hätte bei so einem kleinen Kind noch nie so riesige Polypen gesehen und noch nie so extrem viel Eiter. Also das war kein Wasser im Ohr, das war Eiter! Dadurch hat mein Sohn monatelang so gut wie nichts gehört, als hätte er Schallschutzkopfhörer aufgehabt.

Hat sich die Sprachentwicklung nach der OP verbessert?

Ja, es wurde etwas besser. Aber aufgeholt hat er die Verzögerung trotzdem nicht. Ich habe den HNO-Arzt dann auch nach Logopädie für Late Talker gefragt. Aber er meinte, vor 4 Jahren würde Logopädie keinen Sinn machen. Auch andere haben zu mir gesagt: “Was machst du dir für einen Stress?“

Ich war mir selbst nicht sicher, ob ich mir das nur einbilde. Denn eine sehr gute Freundin hat ein Kind, das nur zwei Wochen älter als mein Sohn ist. Er spricht wie ein Vorschulkind und hat auch schon super früh mit zwei Jahren vollständige Sätze gebildet. Dieser Vergleich war schwierig. Ich kannte kein anderes Kind, das mit seiner Sprachentwicklung so zurück war wie mein Sohn.

Schließlich war ich dann zweimal in der Klinik für Phonologie und Pädaudiologie in Erlangen. Dort wurde ich endlich ernst genommen und es wurde bestätigt, dass mein Sohn eine Phonologische Störung und Dysgrammatismus hat.

Das habe ich meinem Kinderarzt erzählt, damit er meinem Sohn Logopädie verschreibt. Und die Reaktion des Arztes war: „Ich soll ihm doch einfach Bücher vorlesen, dann stimme auch die Grammatik.“

Wie hast du reagiert, als der Arzt meinte: „Einfach Bücher vorlesen“?

Da musste ich echt schlucken, denn offenbar war ich laut Arzt Schuld daran, dass mein Sohn Dysgrammatismus hat. Der Arzt hat mir damit vermittelt, dass ich ein ganz schlechtes Sprachvorbild wäre.

Ich habe dann überlegt, ob ich mit dem Arzt diskutieren soll, aber hab es dann gelassen. Die eine Seite von mir wusste, das ist Quatsch. Die andere Seite von mir, die emotionale Seite, fühlte sich echt schrecklich und ich habe mir riesige Vorwürfe gemacht, ob ich doch etwas falsch gemacht habe.

Denn ich höre ja ständig von anderen Eltern: „Ja, also ich rede ja mit meinem Kind einfach ganz viel und dann kommt das von ganz alleine.“ Und wenn dann ein promovierter Arzt zu einem sagt, ich soll einfach was vorlesen und dann kommt das schon, dann fühle ich mich als schlechte Mutter.

Aber es ist ja nicht so, dass ich mit meinem Kind nicht spreche. Im Gegenteil, ich habe mich wirklich in das Thema eingelesen, habe mich bei Instagram-Accounts von Logopäden informiert, mehrere Coachings und Kurse privat bezahlt und deinen Blog entdeckt. Hier habe ich richtig viel gelernt, vor allem deinen Artikel zur Entwicklung der Grammatik habe ich schon mehrmals gelesen. Der hilft mir total weiter, damit ich besser einordnen kann: Wo steht mein Kind gerade und was ist der nächste Schritt in der Grammatik?

Auch mit unserer Logopädin tausche ich mich oft aus und sie gibt mir viele Tipps, wie ich meinen Sohn zu Hause fördern kann.

Bekommt dein Sohn inzwischen logopädische Therapie?

Ja, vom Kinderarzt habe ich schließlich eine Verordnung bekommen und bei einer Logopädin einmal im Monat einen Platz bekommen. Bei ihr war ich früher schonmal zur Beratung, als ich mir so große Sorgen gemacht habe, weil mein Sohn nicht angefangen hat zu sprechen. Sie hat mir damals echt geholfen.

Im Winter ist die Therapie wegen Krankheit allerdings vier Monate lang ausgefallen. Also versuche ich ihn zu Hause zu fördern, so gut es geht.

Ich versuche den ganzen Tag, mir zu überlegen, was wir Schönes spielen können, bei dem ich seine Sprache fördern kann. Und ich achte gleichzeitig darauf, dass er weiterhin Sprechfreude hat.

Das ist echt schwierig. Ich liebe mein Kind über alles und an manchen Tagen denke ich mir auch, wie sehr habe ich mich auf diese Phase gefreut, in der mein Kind sprechen lernt, man sich unterhalten kann, man sich versteht, in der man nicht rätseln muss, was er meint.

Seit zwei Wochen bekommen wir zum Glück einmal in der Woche Logopädie. Deshalb hoffe ich, dass es jetzt etwas mehr vorangeht und die Fortschritte kommen. Er macht auf jeden Fall sehr gut und konzentriert mit, sagt die Logopädin.

Wie spricht dein Kind jetzt?

Ganz lange haben wir an der Verbzweitstellung gearbeitet. Das klappt jetzt immer besser und er beginnt auch, Artikel einzusetzen. Die sind zwar noch nicht richtig, aber Hauptsache, er benutzt überhaupt welche.

Mein Sohn braucht viel mehr Input als andere Kinder. Wenn das Kind meiner Freundin sagt: „Ich bin die Treppe runtergeht.“ und meine Freundin sagt dann: „Stimmt, du bist die Treppe runtergegangen.“ dann merkt sich ihr Kind das sofort. Mein Sohn braucht viel mehr Wiederholungen, damit er sich die richtige Grammatik speichern kann.

Wegen seiner phonologischen Störung ist er sehr schwer verständlich für andere. Er vertauscht zum Beispiel T mit K und noch viele weitere Laute.

Ich versuche immer, für ihn zu übersetzen, wenn andere ihn nicht verstehen. Denn ich habe wirklich Angst, dass er seine Sprechfreude verliert, weil ihn niemand versteht, und dann das Sprechen einstellt. Und er ist auch schon verständlicher geworden, haben mir die Erzieherinnen zurückgemeldet. Ich merke auch, dass er immer besser verstanden wird.

Inzwischen habe ich auch eine kleine Tochter. Bei ihr ist die Sprachentwicklung völlig anders. Sie plappert ganz viel und kann schon jetzt ein paar Wörter sprechen. So einfach war das bei meinem Sohn nie. Auch er wollte sich mitteilen und reden, aber ihm haben die Wörter gefehlt.

Was findest du besonders schwierig?

Dass es keine Prognose gibt und ich nicht weiß, wann es besser wird. Wenn ich eine Glaskugel hätte und wüsste: „In zwei Jahren hat die ganze Anstrengung gewirkt und er kann gut sprechen“, dann wäre ich jetzt entspannter. Für jeden Fortschritt muss er so hart arbeiten.

Was ich auch schlimm finde, ist, dass mich keiner versteht. Wenn ich zum Beispiel anderen Eltern erzähle, dass er T mit K ersetzt, dann sagen sie: „Ja, aber Kinder vertauschen halt Laute.“ Wenn ich dann sage: „Ja, aber nicht auf diese Art, das verwächst sich nicht einfach“, dann kommt als Antwort: „Aber jedes Kind ist doch verschieden.“

Christina und ihr Sohn am See. Sprachentwicklungsstörungen können Kinder und Eltern stark belasten.

Diese Antworten sollen oft trösten. Aber leider helfen sie nicht weiter, oder?

Nein, gar nicht. Ich fühle mich dann noch schlechter, weil ich anscheinend total übertreibe und eine Helikopter-Mama bin. Aber ich habe mich ja informiert und weiß, dass er eine Sprachentwicklungsstörung hat, die nicht von alleine einfach weggeht.

Das Problem ist, dass andere Erwachsene nicht aushalten können, wenn jemand negative Gefühle hat. Sie wollen es einem dann ausreden. Aber das hilft halt nicht.

Was ich auch schlimm finde, ist, wenn jemand sagt: „Sprachentwicklungsstörungen sind vor allem genetisch bedingt.“ Dann bekomme ich das Gefühl, dass bei uns anscheinend alles falsch gelaufen ist: Ich habe anscheinend schlechte Gene weitergegeben und dass ich ihn in die Krippe gegeben habe, war anscheinend auch falsch.

Das heißt: Die Sprachentwicklungsstörung beeinflusst nicht nur die Sprache deines Sohnes, sondern auch du selbst fühlst dich dadurch sehr belastet?

Ja, genau. Manchmal habe ich wirklich keine Lust mehr, darüber nachzudenken, wie ich ihn noch besser fördern kann. Gleichzeitig habe ich Angst, dass er die Sprachentwicklungsstörung nicht vollständig aufholt.

Ich denke jetzt schon an seine Zukunft und überlege, ob er die gleichen Chancen haben wird wie andere Kinder.

Hast du Tipps für andere Eltern, die sich auch Sorgen um die Sprachentwicklung ihres Kindes machen?

Meine Tipps sind:

  • Aufs Bauchgefühl hören. Wenn du denkst, dass da etwas nicht in Ordnung ist mit der Sprachentwicklung, dann bleib unbedingt dran. Wenn ich nicht so hartnäckig die OP für die Paukenergüsse und Polypen gefordert hätte, dann wäre er jetzt noch nicht operiert worden.
  • Dickes Fell wachsen lassen gegen blöde Kommentare von anderen Leuten und Fachpersonal
  • Ganz viel ins Thema einlesen und daheim so viel möglich fördern. Mir haben da auch die Instagram-Accounts von Logopäden sehr geholfen. Ich habe mich da verstanden gefühlt und mir haben die Tipps schon oft weitergeholfen. Denn wichtig ist, sich selbst zu informieren und für sein Kind einzustehen.

Christina, ich danke dir sehr für deinen Einblick in eure Situation. Viele Eltern denken, dass sie ganz allein mit ihren Gefühlen und Gedanken über die Sprachentwicklungsstörung ihres Kindes sind.

Mit deinem Interview hilfst du vielen Eltern mit sprachauffälligen Kindern, sich weniger einsam und verstandener zu fühlen. Danke!


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3 Kommentare zu „Interview: Wenn Sorgen nicht ernst genommen werden“

  1. Pingback: KW12/2024: Alle TCS-Blogartikel - The Content Society

  2. Es ist sozusagen auch der Standardsatz auf Facebook und Co., wenn eine Mutter ihre Bedenken bzgl. der Sprachentwicklung äußern.

    Lies halt viel vor und erkläre alles, was du tust.

    Ich war nie in der Situation, kann mir aber gut vorstellen, wie blöd sich das anfühlen muss, vor allem, wenn man das doch sowieso schon tut.

    Das Thema ist doch viel komplexer und bedarf einer ganz individuellen Betrachtung.

    1. Liebe Ariane,

      ja, diese Tipps wie „Viel vorlesen und alles sprachlich begleiten“ lese ich bei Facebook auch immer wieder unter Elternposts. Für viele Kinder sind das auch gute Sprachfördertipps. Aber du hast völlig recht: Bei einem Kind mit einer Sprachentwicklungsstörung ist das Ganze komplexer und die Tipps sind viel zu allgemein, als dass sie einem Kind mit SES ausreichend helfen könnten.

      Vielen Dank fürs Lesen und deinen emphatischen Kommentar.
      Herzliche Grüße
      Wiebke

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Wiebke Schomaker Logopädin

Hallo, hier schreibt Wiebke!

Ich bin Logopädin, Autorin dieses Blogs und Mutter von drei Kindern. Hier findest du Infos zur Sprachentwicklung und Tipps, wie du dein Kind beim Sprechenlernen kompetent und spielerisch begleiten kannst.

Viel Spaß beim Lesen! 🤩

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