Wie entwickelt sich Sprache bei Kindern? Welche Fähigkeiten brauchen Kinder, um erste Wörter und erste Sätze sprechen? In diesem Artikel gebe ich dir einen Überblick über die wichtigsten Meilensteine der Sprachentwicklung von 0 bis 3 Jahren.
Außerdem zeige ich dir, auf welche Entwicklungsschritte du achten kannst, wenn dein Kind mit zwei Jahren noch wenig oder gar nicht spricht.
Inhalt des Artikels
Das erste Lebensjahr: Kommunikation von Anfang an
Ein Baby wird mit der Fähigkeit geboren, jede Sprache dieser Welt sprechen lernen zu können. Im Laufe des ersten Lebensjahres entwickeln sich diese Fähigkeiten weiter, passen sich an die Muttersprache(n) an und erste Meilensteine der Sprachentwicklung werden erreicht. Das sind unter anderem:
- Lallen und Brabbeln
- Erste Gespräche
- Erstes Sprachverständnis
- Mit Absicht kommunizieren können
- Die Aufmerksamkeit teilen können
1. Lallen und Brabbeln
Erste Lallphase: Mit ungefähr 6 Wochen beginnen Babys, die verschiedensten Laute auszuprobieren. In diesem Alter lallen alle Babys gleich, unabhängig von der Muttersprache. Vermutlich konzentrieren sich Babys dabei vor allem auf das Gefühl und die Bewegung. Denn auch gehörlose Babys lallen in den ersten 6 Monaten genauso wie Babys, die hören können.
Zweite Lallphase: Ab der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres beginnen Babys, sich selbst beim Lallen zuzuhören. Dadurch entsteht ein Lallen, das sich nun ganz anders als früher anhört: Silben werden aneinander gereiht wie „bababa“ oder „didididi“. Sie zeigen ein Betonungsmuster, das schon an die Muttersprache erinnert – französischsprachige Babys lallen jetzt also anders als deutschsprachige Babys.
Viele Babys lallen in zufriedenen Momenten auch gerne alleine und spielen mit ihrer Stimme. So lernen sie allmählich, ihre Stimme und ihre Sprechbewegungen immer gezielter zu kontrollieren und zu steuern. Etwas später können sich diese Silbenketten in der Betonung wie echte Sätze anhören. Es scheint tatsächlich, als ob das Kind schon reden könnte – aber dieses Reden besteht noch nicht aus echten Wörtern.
Kinder mit späteren Aussprachestörungen (zum Beispiel mit einer Verbalen Entwicklungsdyspraxie) zeigen in der zweiten Lallphase oft schon Auffälligkeiten: Sie lallen viel weniger als andere Babys. Gehörlose Babys hören in diesem Alter ganz auf zu lallen.
2. Erste Gespräche
Babys beginnen schon früh, auf Sprache und Mimik mit Begeisterung zu reagieren. Sie strampeln, jauchzen oder lachen, wenn jemand mit ihnen spricht.
Auch Bezugspersonen reagieren auf Kommunikationssignale eines Babys intuitiv, in dem sie mit hoher Stimme, vielen Wiederholungen und einer Art Singsang sprechen. Diese intuitive Sprechweise wird als Babytalk bezeichnet.
3. Erstes Sprachverständnis
Im zweiten Lebenshalbjahr beginnen Kinder, erste Wörter zu verstehen. Dies sind meistens Wörter, die täglich in Routinen vorkommen (wie Hallo, Tschüß, Windel, Mütze, Mama, Papa, essen,…).
Ganze Sätze verstehen Babys in diesem Alter noch nicht, sondern verwenden die Schlüsselwortstrategie: Sie kombinieren mit Hilfe der bekannten Situation und mit Hilfe eines bekannten Wortes, was gemeint sein könnte. Da ein Kind ein Wort zuerst verstehen muss, bevor es das Wort aktiv sprechen kann, ist auch das Wortverständnis eine Voraussetzung für erste Wörter.
4. Mit Absicht kommunizieren können
Wenn Bezugspersonen verlässlich auf die Signale des Babys achten und reagieren, dann merkt es nach und nach: „Die Botschaften, die ich sende, sind wichtig. Ich werde verstanden.“ Dadurch lernt ein Baby, dass es mit seiner Stimme, seinen Lauten und Bewegungen etwas verändern kann – es entdeckt die Macht der Sprache. Eine bahnbrechende Erkenntnis für ein Baby und ein großer Schritt in der Sprachentwicklung!
Nun kann es gezielt und mit einer bestimmten Absicht kommunizieren, zum Beispiel, in dem es auf etwas zeigt, das es haben will. Die absichtsvolle Kommunikation ist ein wichtiger Meilenstein im ersten Lebensjahr und entwickelt sich bei den meisten Kindern zwischen 9 und 12 Monaten.
Ein Kind, dass absichtsvoll kommunizieren kann, lässt sich nicht mehr so leicht von seinem Ziel abbringen. Wenn es unbedingt die Kekse aus dem Küchenschrank haben will, dann zeigt es vielleicht zuerst auf den Schrank. Wenn keiner einen Keks holt, wird es lautstark quengeln oder die Eltern zum Schrank mitziehen, um deutlich zu zeigen, was es will. Dieses Kind hat, so sagen Logopäden, eine gute „intentionale Befähigung“, denn es benutzt verschiedene kommunikative Wege, um zum Ziel zu kommen, auch wenn es noch nicht sprechen kann.
5. Erlebnisse miteinander teilen: Der trianguläre Blickkontakt
Anfangs konzentriert sich ein Baby entweder vollständig auf seinen Gesprächspartner oder vollständig auf einen Gegenstand in seiner Reichweite. Wenn du mit einem 6 Monate alten Baby gerade „im Gespräch“ bist, dann wird es dich mit voller Aufmerksamkeit anschauen und sich vollständig auf dich und auf deine Stimme konzentrieren. Wenn du ihm nun plötzlich eine Rassel hinhältst, wird es mit seiner ganzen Aufmerksamkeit zur Rassel wandern, sie mit Begeisterung betrachten und begreifen. Es wird in diesem Moment keinen Blick zu dir werfen, sondern sich ganz und gar auf die Rassel konzentrieren.
Erst mit ungefähr 9-12 Monaten lernt ein Baby, seinen Blick und damit seine Aufmerksamkeit zwischen einer Person und einem Gegenstand wechseln zu lassen. Diese neue Fähigkeit wird „triangulärer Blickkontakt“ oder „geteilte Aufmerksamkeit“ genannt. Wenn du deinem Kind nun eine Rassel gibst, dann kann es abwechselnd zur Rassel und dann wieder zu dir schauen oder dir die Rassel hinhalten, um zu zeigen: Schau mal, was ich habe!
Für uns Erwachsen ist diese Fähigkeit selbstverständlich. Für ein Kind ist der trianguläre Blickkontakt einer der wichtigsten Meilensteine in der Sprachentwicklung. Warum? Der trianguläre Blickkontakt ist im Kern das, was Kommunikation eigentlich bedeutet: Ich teile diesen Moment mit dir!
Diese neue Fähigkeit ist ein riesiger Anschub für die weitere Sprachentwicklung. Denn nun könnt ihr gemeinsam interessante Dinge betrachten und euch darüber unterhalten: Über den Regenwurm auf dem Weg, über den Krümel auf dem Fußboden oder über den Bagger auf der Straße.
Wenn diese Meilensteine der Sprachentwicklung erreicht sind, dann ist es nicht mehr weit bis zum ersten Wort.
Mit 12 bis 18 Monaten: Die ersten Wörter
Die meisten Kinder beginnen um den ersten Geburtstag herum, das erste Wort zu sprechen. Oft ist dieses erste Wort „Mama“ oder „Papa“, manchmal auch „heiß“, „nein“ oder „wauwau“ – je nachdem, was für das Kind besonders eindrücklich ist und was es oft hört.
Zu den ersten Wörtern zählen auch
- Wörter, die vereinfacht ausgesprochen werden („Nana“ statt Banane)
- selbsterfundene Wörter („Didi“ für Schnuller)
- Geräusche (Lautmalereien) für Tiere („gaga“ für alle Vögel)
- Actionwörter („bumm!“, wenn etwas umfällt)
- Gebärden (Handdrehen für „noch mehr“)
Als „Wort“ zählen alle Äußerungen und Gebärden, die das Kind von sich aus benutzt und die (im Unterschied zu den Silbenketten aus der zweiten Lallphase) eine feste Bedeutung haben.
Um neue Wörter zu lernen, nutzen viele Kinder die Technik der Imitation: Sie imitieren dabei genau die Wörter, die sie schon verstehen (also als passiven Wortschatz schon gespeichert haben), aber noch nicht aktiv sprechen. Das Imitieren hilft Kindern, die Wortform (Wie wird das Wort ausgesprochen?) mit dem Wortinhalt (Was bedeutet das Wort?) zu verknüpfen.
Mit 18 bis 24 Monaten: Die ersten Sätze
Wenn Kinder ungefähr 50 Wörter sprechen können, dann beginnen sie, Zweiwortsätze zu bilden. Zweiwortsätze bestehen aus zwei Wörtern, die ein Kind miteinander kombiniert, zum Beispiel: „Mama Arm“ oder „Mila hamham“. Oft beginnt zeitgleich der Wortschatzspurt: Jetzt kommen täglich neue Wörter dazu, so dass der Wortschatz schnell wächst.
Diese Phase des rasanten Wortschatzwachstums bewirkt, dass viele Kinder um den zweiten Geburtstag herum schon rund 300 Wörter sprechen und mit Zwei- oder Mehrwortsätzen einiges ausdrücken können, was sie mitteilen wollen. Diese ersten Sätze sind aber noch nicht vollständig oder grammatikalisch „richtig“ im Vergleich zur Erwachsenensprache. In meinem Artikel zur Entwicklung der Grammatik erkläre ich ausführlicher, wann Kinder welche Phasen der Grammatikentwicklung durchlaufen.
Auch in der Aussprache der Wörter gibt es noch viele Vereinfachungen oder Lautersetzungen. In meinem Leitfaden für eine gute Aussprache erfährst du die genaue Reihenfolge, in der Kinder Sprachlaute richtig sprechen lernen.
Und der Wortschatz? Der entwickelt sich ein Leben lang sehr individuell weiter:
Late Talker: Wenn ein Kind mit 2 Jahre noch wenig oder gar nicht spricht
Falls du dir diesen Artikel mit besorgtem Bauchgefühl durchliest, weil dein Kind noch wenig spricht: Du bist nicht allein. Etwa 15% aller Zweijährigen gehören zu den Late Talkern. Als Late Talker werden Kinder bezeichnet, die am 2. Geburtstag noch keine 50 Wörter und keine Zweiwortsätze sprechen.
Viele Late Talker holen die Sprachentwicklung bis zum dritten Geburtstag auf. Manche Late Talker bleiben auch mit drei Jahren auffällig in ihrer Sprachentwicklung. Bei ihnen ist der späte Sprachbeginn ein erster Hinweis für eine Sprachentwicklungsstörung.
Es ist also sinnvoll, genauer hinzuschauen, wenn dein Kind mit 18 Monaten noch kein Wort oder mit 24 Monaten noch keine 50 Wörter spricht.
Beobachte dein Kind, ob es die Meilensteine des ersten Lebensjahres erreicht hat:
- Hat es viel gelallt / gebrabbelt und Silbenketten gesprochen?
- Gab und gibt es Gespräche zwischen euch, auch ohne Worte?
- Wie versteht dein Kind Sprache? Kann es mit 2 Jahren auf einfache Anweisungen reagieren, zum Beispiel auf etwas im Buch zeigen?
- Teilt sich dein Kind gezielt mit, zum Beispiel mit Gebärden oder der Zeigegeste?
- Verwendet dein Kind den triangulären Blickkontakt, zum Beispiel, wenn es dir einen Gegenstand bringt und dann zwischen Gegenstand und dir hin und her schaut, als wollte es sagen: „Schau mal, was das Tolles ist!“?
Hier findest du drei erste Tipps, mit denen du deinen Late Talker fördern kannst.
Wenn du beunruhigt bist, weil sich die Sprachentwicklung deines Kinder langsamer oder anders entwickelt, dann kann dir und deinem Kind eine logopädische Beratung helfen. Sinnvoll ist es außerdem, mögliche Ursachen für Auffälligkeiten in der Sprachentwicklung in der kinderärztlichen Praxis untersuchen zu lassen, zum Beispiel eine Schwerhörigkeit aufgrund von Paukenergüssen.
Sprachentwicklung und Autismus
Nicht alle Kinder erwerben Sprache gleich. Vor allem Kinder im Autismus-Spektrum (aber auch manche neurotypischen Kinder) entwickeln Sprache anders. Im sog. gestaltbasieren Sprachentwicklungsstil beginnt der Spracherwerb nicht mit einzelnen Wörtern, sondern mit Echolalien (Imitationen) von Wörtern, Phrasen oder ganzen Sätzen. In meinem Interview mit der Sprachtherapeutin Lisa Klaar erfährst du mehr zum gestaltbasierten Sprachentwicklungsstil.
Dies war mein Überblick über die Meilensteine der Sprachentwicklung in den ersten drei Lebensjahren. Schreib mir gerne, wenn etwas unklar geblieben ist. Ich freue mich über einen Kommentar!
Hallo, hier schreibt Wiebke!
Ich bin Logopädin, Autorin dieses Blogs und Mutter von drei Kindern. Hier findest du Infos zur Sprachentwicklung und Tipps, wie du dein Kind beim Sprechenlernen kompetent und spielerisch begleiten kannst.
Viel Spaß beim Lesen! 🤩