Was ist phonologische Bewusstheit und wie kann ich sie fördern?

Was ist phonologische Bewusstheit und wie kann sie gefördert werden?

Phonologische Bewusstheit ist die Erkenntnis, dass Wörter nicht nur eine Bedeutung, sondern auch eine äußere Form haben.

Kinder mit einer gut entwickelten phonologischen Bewusstheit haben ein Gespür für den Klang der gesprochenen Sprache entwickelt.

Sie können (je nach Alter) zum Beispiel:

  • Wörter in Silben zerlegen
  • Reimen
  • Hören, mit welchem Laut ein Wort beginnt
  • Laute aus einem Wort heraushören
  • Einzelne Laute zu einem Wort zusammenziehen

In diesem Artikel erkläre ich, warum die phonologische Bewusstheit so wichtig für das Lesen- und Schreibenlernen ist und wie du diese Fähigkeit beobachten und fördern kannst.

Über das Inhaltsverzeichnis kannst du zu dem Thema springen, das dich interessiert.

Wann entwickelt sich die phonologische Bewusstheit?

Phonologische Bewusstheit entwickelt sich nicht plötzlich, sondern Schritt für Schritt im Laufe der ersten Lebensjahre.

Die phonologische Bewusstheit im weiteren Sinne wird allmählich ab ca. 3 Jahren entdeckt. Dreijährige Kinder klatschen zum Beispiel bei Liedern die Silben mit oder erkennen einfache Reime wie Haus-Maus.

Diese frühe Form der phonologischen Bewusstheit entwickelt sich in einer sprachreichen Umgebung oft nebenbei und intuitiv, wenn Lieder gesungen und Fingerspiele gespielt werden.

Mit ca. 4 bis 5 Jahren beginnen viele Kinder, Spaß am bewussten Spielen mit Sprache zu haben und einzelne Laute in Wörtern wahrzunehmen.

Typisch für das Vorschulalter sind zum Beispiel:

  • Spaß an Reimwitzen wie „Sag mal Tomate! Deine Oma kann Karate!“
  • Spaß an Geheimsprachen, in denen Laute ausgetauscht werden
  • Erkennen von einzelnen Anlauten („Auto und Auge fangen gleich an!“)
  • Das Interesse für Buchstaben

Das Wahrnehmen einzelner Laute wird auch als „phonologische Bewusstheit im engeren Sinne“ bezeichnet. Sie entwickelt sich nicht nur im Alltag, sondern braucht spielerische Förderung.

Warum ist die phonologische Bewusstheit wichtig für Vorschulkinder?

Lesen und Schreiben sind Kulturtechniken, die bestimmte Vorläuferfähigkeiten brauchen. Die phonologische Bewusstheit ist eine der wichtigsten Fähigkeiten, die vor der Einschulung entwickelt sein müssen, um die Schriftsprache erfolgreich lernen zu können.

Dr. Petra Küspert, die seit vielen Jahren zur Legasthenie forscht, schreibt dazu:

„Wir wissen aus der modernen Forschung, dass es schon lange vor der Einschulung möglich ist, so genannte „Risikokinder“ – also Kinder, die mit großer Sicherheit beim Lesen- und Schreibenlernen Probleme haben werden – zu erkennen. In sehr vielen Fällen können wir die Kinder im Vorschulalter sogar spielerisch so fördern, dass ihnen das Schicksal einer Legasthenie erspart bleibt.“

Dr. Petra Küspert, Neue Strategien gegen Legasthenie (2005)

Einer dieser Risikofaktoren, von denen Dr. Küspert schreibt, ist eine eingeschränkte phonologische Bewusstheit zur Einschulung des Kindes.

Warum ist diese Fähigkeit beim Lesen- und Schreibenlernen so wichtig?

Ich erkläre die Wichtigkeit der phonologischen Bewusstheit an einem Beispiel: Ein Kind aus der ersten Klasse soll das Wort „Hose“ schreiben.

Ältere Kinder und Erwachsene, die „Hose“ schon oft geschrieben haben, sehen das Wort vor ihrem inneren Auge (denn es ist im Langzeitgedächtnis gespeichert) und brauchen es nur noch abzuschreiben.

Ein Anfänger im Schreiben muss sich dieses Wort jedoch in mehreren Schritten erarbeiten:

  1. Es muss das Wort „Hose“ in Silben zerlegen (Ho-se).
  2. Dann muss es die Silben in einzelne Laute zerlegen (h-o-s-e).
  3. Anschließend muss es jedem Laut den passenden Buchstaben zuordnen.
  4. Diese Buchstabenkette muss nun im Kurzzeitgedächtnis gespeichert werden.
  5. Zum Schluss wird das Wort Buchstabe für Buchstabe aufgeschrieben.

Ein Wort zu schreiben ist für einen Schreibanfänger eine enorme Leistung, die höchste Konzentration erfordert. Neben einem gut entwickelten Kurzzeitspeicher sind die Fähigkeiten der phonologischen Bewusstheit entscheidend, um diese Leistung zu meistern.

Wie hängen Aussprachesstörungen und phonologische Bewusstheit zusammen?

Vor allem Kinder mit (früheren) Auffälligkeiten in der Sprachentwicklung haben häufig eine eingeschränkte phonologische Bewusstheit.

Vermutet wird bei Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen (SES) eine eingeschränkte Sprachverarbeitung. Diese Sprachverarbeitungsschwäche kann durch logopädische Therapie gut kompensiert werden. Sie bleibt aber weiterhin bestehen und kann im Schulalter eine Lese-Rechtschreibschwäche verursachen.

Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen profitieren deshalb besonders von einer gezielten Förderung der phonologischen Bewusstheit vor der Einschulung. Das Risiko für die Entstehung einer Legasthenie / Lese-Rechtschreibschwäche (LRS) kann dadurch deutlich gesenkt werden.

Aber auch für die Aussprachetherapie selbst wird phonologische Bewusstheit benötigt. Deshalb lernen Kinder mit einer phonologischen Verzögerung bzw. Störung im ersten Schritt, die Laute, die sie vertauschen, zu unterscheiden und aus Silben, Unsinnwörtern und Wörtern herauszuhören.

Wie kann ich die phonologische Bewusstheit beobachten?

Es gibt zahlreiche Tests und Screenings, um bei Kindern herauszufinden, wie ihre Fähigkeiten der phonologischen Bewusstheit ausgebildet sind, zum Beispiel das BISC (Bielefelder Sreening zur Früherkennung von LRS).

Im Kindergarten oder zu Hause kann aber auch ohne spezielle Testung die phonologische Bewusstheit eines Kindes beobachtet werden.

Hier ist eine Beobachtungshilfe:

  • Kann mein Kind Wörter in Silben zerlegen? Mache deinem Kind die „Robotersprache“ vor und sprich in abgehakten Silben. Kann dein Kind auch wie ein Roboter sprechen?
  • Kann mein Kind reimen? Lies ein Buch mit gereimten Texten vor. Lasse ab und zu das zweite Reimwort weg: „Im Haus wohnte eine… (Maus)“ und warte, ob dein Kind ein Reimwort ergänzt. Kann dein Kind auch Quatschreime bilden?
  • Ab ca. 5 Jahren: Kann mein Kind den Anlaut von Wörtern hören? Sprich deinem Kind ein leichtes Wort wie „Mama“ vor und ziehe das „m“ in die Länge: „Mmmmmama!“ Kann dein Kind hören, mit welchem Laut das Wort beginnt? Findet es weitere Wörter, die mit „m“ beginnen?
  • Ab ca. 5 Jahren: Kann mein Kind Laute zu einem Wort zusammenziehen? Sprich deinem Kind ein kurzes Wort in einzelnen Lauten vor (Ei-s, Sch-a-l). Kann dein Kind das Wort erkennen?

Wie kann ich die phonologische Bewusstheit spielerisch fördern?

Hier zeige ich dir 5 Spiele, die unterschiedliche Aspekte der phonologischen Bewusstheit spielerisch fördern.

Falls du merkst, dass dein Kind Schwierigkeiten hat, Reime und Silben zu erkennen oder einzelne Laute wahrzunehmen, dann kann eine logopädische Therapie helfen.

Außerdem kann eine Diagnostik bei einem HNO-Arzt / -Ärztin sinnvoll sein, denn manchmal verstecken sich eine leichte Schwerhörigkeit (zum Beispiel durch Paukenergüsse) oder eine auditive Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörung (AWVS) hinter diesen Schwierigkeiten.

Spiel: Was raschelt denn da?

Ab 3 Jahren

Bei diesem Spiel werden die Aufmerksamkeit für Geräusche geweckt und die auditive Wahrnehmung gefördert.

Material

Papier (zum Beispiel Zeitungspapier)

So geht‘s

Probiere mit deinem Kind aus, welche Geräusche mit Hilfe des Papiers entstehen können: das Papier einreißen, zerreißen, knüllen, falten, mit dem Papier fächern, es fallen lassen,… Anschließend schließt einer die Augen und lauscht, welches Geräusch der andere mit dem Papier produziert.

Hörst du das Rascheln?

Spiel: Hör-Memory

Ab 3 Jahren

Beim Hör-Memory wird die feine Unterscheidung von Geräuschen gefördert. 

Material

10-12 leere Trinkjoghurtflaschen, Stoffreste (kleine Quadrate, ca. 10x10cm), Gummibänder

Füllung für das Memory, zum Beispiel Sand, kleine Steine, getrocknete Linsen, Zucker, kleine Nudeln, ein Geldstück, Watte

So geht‘s

Fülle je zwei Trinkjohurtflaschen mit dem gleichen Füllmaterial. Bedecke die Öffnung mit den Stoffquadraten und verschließe sie mit einem Gummiband (siehe Foto). Jetzt könnt ihr gemeinsam die Flaschen schütteln und herausfinden, welche zwei Flaschen gleich klingen.

Wer möchte, kann beim Befühlen Zahlen auf die Unterseite der Flaschen schreiben. So kann dein Kind selbst kontrollieren, ob es ein Pärchen gefunden hat.

Variante für die Gruppe

Jedes Kind bekommt eine Flasche. Nun laufen die Kinder durch den Raum und versuchen, ihren Partner mit der gleichklingenden Flasche zu finden.

Ein Hör-Memory kann immer wieder verwendet werden.

Spiel: Reim-Memory

Ab 3-4 Jahren

Für das Reim-Memory brauchst du doppelte Bildkarten mit Wörtern, die sich reimen.

Tipp: In meinem Blogartikel zum Reimen gehe ich darauf ein, wie du deinem Kind helfen kannst, wenn es das Reim-Prinzip noch nicht verstanden hast. Außerdem kannst du dir dort die Bildkarten für das Reim-Memory kostenlos herunterladen und ausdrucken.

So geht’s

Schneide alle Bildkarten gemeinsam mit deinem Kind aus und klebe sie je nach Papierstärke auf Tonkarton. Besprich dabei, was auf den Bildern zu sehen ist.

Lege alle Bildkarten umgedreht auf den Tisch. Abwechselnd werden zwei Karten umgedreht und benannt. Wer beim Umdrehen zweimal das gleiche Bild findet, darf es behalten. 

Variante: Etwas schwieriger wird es, wenn beim Memory nicht gleiche Bilder (Kopf-Kopf) gesucht werden, sondern Reimpaare (Kopf-Topf).

Spiel: Silben-Echo

Ab 3-4 Jahren

Hier wird das Gefühl für Silben mit Rhythmus verknüpft. Das Spiel macht auch in der Gruppe viel Spaß.

Material

zwei Holzlöffel pro Person (oder Klanghölzer)

So geht‘s

Sprich ein mehrsilbiges Wort, zum Beispiel „Waschmaschine“ und klopfe dabei im Rhythmus mit den Holzlöffeln zusammen. Dein Kind versucht, den Rhythmus nachzumachen. Wenn dein Kind möchte, kann es ebenfalls ein Wort nennen und versuchen, mit den Holzlöffeln einen Rhythmus dazu zu schlagen.

Variante für die Gruppe

Jedes Kind bekommt zwei Klanghölzer und versucht, den Rhythmus des Wortes gleichzeitig nachzuklopfen, so dass ein Drum-Orchester entsteht.

Zwei Holzlöffel oder Stöcker – mehr Material brauchst du nicht für das Spiel „Silben-Echo.

Spiel: Geheimsprache

Ab 5 Jahre

Geheimsprachen machen vielen Vorschulkindern Spaß. Nebenbei förderst du die phonologische Bewusstheit im engeren Sinne. 

Material

Keines

So geht’s

Zeige deinem Kind eine Geheimsprache: Bei jedem Wort werden die Vokale mit einem einzelnen Vokal (A, E, I, O oder U) ausgetauscht. Der Satz: „Ich heiße Lisa.“ wird zum Beispiel zu „Ach haßa Lasa.“ Besonders spannend finden es viele Kinder, die Vokale ihres eigenen Namens auszutauschen.

Ihr könnt euch auch gegenseitig Rätsel stellen: Benenne einen Gegenstand im Raum mit der Geheimsprache. Findet dein Kind heraus, welcher Gegenstand gemeint ist?


Weitere Spiele zur Förderung der phonologischen Bewusstheit im engeren Sinne findest du hier:

Gespenst Gerhard: Ein spannendes Spiel mit Taschenlampe, mit dem die Aussprache von G und die phonologische Bewusstheit gefördert wird.

zum Blogartikel “ Gespenst Gerhard“

5 Spiele mit Minimalpaaren zur Förderung der Aussprache und der phonologischen Bewusstheit

zum Blogartikel „Minimalpaar-Spiele“

Spielen, Sprechen, Spaß haben! Buch mit Spielen zur Sprachförderung von Wiebke Schomaker

Im Buch Spielen, Sprechen, Spaß haben! findest du über 100 Spiele zur Sprachförderung.

Mit Begleitvideos und zahlreichem Spielmaterial zum Download.

zum Spielebuch

(Link zu Amazon)

Ich wünsche dir und deinem Kind viel Spaß mit den Spielen!

3 Kommentare zu „Was ist phonologische Bewusstheit und wie kann sie gefördert werden?“

  1. Pingback: KW38/2024: Alle TCS-Blogartikel - The Content Society

  2. Pingback: Logopädie-Lexikon: Logopädische Fachbegriffe einfach erklärt - starke sprache

  3. Liebe Wiebke,

    deinen Artikel finde ich sehr informativ und hilfreich. Besonders gut gefallen mir deine Spiele-Tipps, mit denen man die phonologische Bewusstheit fördern kann.
    Ganz bestimmt werde ich deinen Text oft verlinken, weil die phonologische Bewusstheit auch in der Lerntherapie eine wichtige Rolle spielt.

    Viele Grüße
    Ilka

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Wiebke Schomaker Logopädin

Hallo, hier schreibt Wiebke!

Ich bin Logopädin, Autorin dieses Blogs und Mutter von drei Kindern. Hier findest du Infos zur Sprachentwicklung und Tipps, wie du dein Kind beim Sprechenlernen kompetent und spielerisch begleiten kannst.

Viel Spaß beim Lesen! 🤩

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